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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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ragt, mit der rostigen Nadel des Pfeils in ihrer Haut, die schon von einem kleinen karmesinroten Tropfen benetzt ist, und ich nutze den Moment und ducke mich unter dem Fenster und schleiche lautlos in den Gang zurück.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

»Sie setzen Gewalt als Konfliktlösung ein. Ist das sinnvoll?«
»Ich muss für niemanden Vorbild sein, finde ich.«
»Sie haben doch einen Sohn, sagten Sie.«
»Er ist schon groß.«
»Was macht er?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Und als er klein war?«
    10
    Mein Sohn spielt im Garten, er läuft zwischen den hohen Gladiolenstämmen umher, die ihn um mehrere Köpfe überragen, rote, gelbe, weiße Fontänen von aufgehenden Blumenblättern, er lacht, er schwenkt ein weißes Schmetterlingsnetz auf einem feinen hölzernen Stäbchen. Um ihn herum flattern die Objekte seiner Jagd auf, als er mit einer groben, wilden Bewegung in den Busch springt, der den Schmetterlingen am besten schmeckt. Ganze Schwärme steigen um ihn herum auf und verstreuen sich mit unruhigen Zickzacklinien in den Sommerhimmel. Er lässt das Netz fallen und legt seinen Kopf in den Nacken, um ihnen nachzusehen, halb geblendet, sein Haar glänzt in der Sonne wie Vogelgefieder, er ist so klein und leicht, dass ich fürchte, er könnte in das stechende Blau ohne jedes Weiß entschwinden, den Schmetterlingen hinterher, wenn er es nur wollte. Er schreit.
    Meine Mutter hat sich hingelegt, die Sonne machte sie noch im Haus müde, wo sie sich vor ihr verbarg, im Unterschied zu mir und meinem Sohn ist ihre Haut auch im Mittsommer noch hell und unberührt, so farblos fast wie ihr Haar, das sie immer noch lang trägt, in einem Zopf gebunden, unter einem Tuch aus leichtem Stoff versteckt, wie ihre Haut hinter den leichten Baumwollvorhängen versteckt wird. Sie ist unberührt und mädchenhaft, mit vorwurfsvollem Blick auf meine bloßen, braungebrannten Beine, mit denen ich ins Haus laufe, ohne mir Hausschuhe überzustreifen, und den Dreck des Gartens ins Vorzimmer trage, die staubigen Abdrücke meiner Füße markieren meinen Weg durch das Erdgeschoß und seine Räume ganz genau: in die vollgeräumte Speisekammer, wo unzählige bauchige Marmeladetöpfe in ordentlichen Reihen das Holzregal füllen. Viele Stunden geduldiger Arbeit eingeschlossen in Glas. Bernsteinmarmelade.
    Meine Schwester geht täglich um Beeren in den Wald, wenn ich da bin, helfe ich ihr ab und zu, und mein Sohn begleitet uns gerne, der Wald ist riesig und unberechenbar, es gibt dort Füchse und Bären, und wenn man weiß, wo man suchen soll, riesige wilde Erdbeer- und Himbeer- und Heidelbeerfelder. Wenn man sie erreicht hat, kann es den ganzen Tag dauern, bis wir unsere geflochtenen Körbe angefüllt haben. Ich betreibe eine Umkehr von Aschenputtel und stecke meinem Sohn die besten Exemplare in den verschmierten Mund, während die wurmigeren im Korb landen, bis mich meine Schwester dabei erwischt und schimpft. Die Beeren sind für den Markt bestimmt, für fremde Gaumen, die es wert sind, gefüttert zu werden.
    Im Herbst muss der Erlös der eingekochten Marmelade die Beheizung des Hauses garantieren können. Wir speichern uns die Sommerwärme ins Glas, indem wir den Reichtum des Waldes speichern. Bernsteingläser, denke ich wieder, eine goldgelbe Reihe, dann eine schwarzviolette, eine in Rubinrot gehalten. Ich greife nach einem davon und nehme es unverschämt. Ich suche nach dem schönsten, nach der perfekten Farbe, satt und dicht, schraube es noch auf dem Weg in die Küche auf, tauche den Finger ein und lecke ihn ab. So schmeckt das Leben auch, denke ich mir, so dicht, so intensiv fruchtig und süß. Ich tropfe eine goldgelbe Spur hinter mir her ins Bad, in die Küche, wo ich die gläserne Wasserkaraffe fülle, um meinem Sohn zu trinken zu bringen.
    Ich sitze mit meinem Sohn auf der Terrasse, die in den Garten führt, ein Tablett auf meinem Schoß, ein Krug kalten Wassers neben uns auf den moosüberzogenen Steinstufen. Er hat Blütenblätter hineingestreut, die er zwischen den Himbeerstauden abgerissen hat, akkurate, weiße Halbmonde, so zart wie kleine Schmetterlingsflügel, schwimmen auf der Oberfläche und kleben sich an den Rand der Glaskaraffe. Die gelben Mittelteile der Himbeerblüten hat er gesammelt, in seiner kleinen Kinderhand verborgen, die er mir nun unter die Nase hält und vorsichtig öffnet, als wären echte Schmetterlinge darin, die jeden Augenblick auseinanderstieben

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