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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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katalogisieren und einzuschätzen, alles, was er an Hilfe von auswärts bekommen kann, macht mich unnötiger und gefährdeter. Ich ertappe mich dabei, dass ich fast eifersüchtig werde auf diese Fluchtversuche, die völlig harmlos sind: Seine Nachbarn wissen um seinen Zustand Bescheid, sie haben sich, bevor ich kam, über die Gerüche, die aus seiner Wohnung drangen, bei der Hausverwaltung beschwert, ohne ihm in irgendeiner Weise zu helfen oder ihn wenigstens über ihr Vorhaben zu informieren.
    Sie haben ihn schon die Treppe raufkeuchen gehört, bevor er ganz bettlägerig wurde, eine halbe Stunde brauchte er, um die Einkäufe aus dem Supermarkt in seine Wohnung zu schaffen.
    Ich sage mir das vor, immer und immer wieder, trotzdem überkommt mich ab und zu eine leichte Unruhe, die mich durch Leos Wohnung treibt, seine Telefonanrufe durchgehen lässt, seine Nachrichten auf Tonband, seine Post. Manchmal kommen Glückwunschkarten seiner Kollegen zu Ostern und Weihnachten, Genesungswunschkarten, zuerst noch viele, später immer spärlicher. Ab und zu Briefe, von Freunden und Verwandten, die ich kommentarlos öffne, lese und entsorge. Manche klebe ich vorsichtig wieder zusammen und überreiche sie ihm, wenn ich Lust darauf habe. Meine Liebe ist das Schutzschild Gottes, das ihn vor meiner Wut schützt. Vorläufig. Gott ist nämlich tot und ich lebe.
    »Wo ist der Postschlüssel«, greint Leo, »ich will einmal selbst nach der Post sehen, vielleicht schaust du nicht richtig nach.«
    Dass seine Exfrau so lange nichts mehr von sich hören lässt, wundert ihn, er kann nicht glauben, dass seine Kollegen auf ihn vergessen haben. Diese bereiten mir die geringsten Sorgen: Seit über zwei Monaten hat ihm tatsächlich niemand mehr geschrieben und mir damit Arbeit bereitet.
    »Ich habe ihn dir doch gegeben«, sage ich und lächle und halte seinem Blick stand.
    »Das kann nicht sein«, seine Stimme zittert leicht, »wo ist er denn, ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Wo ist mein Handy?«
    »Du weißt doch, die Medikamente benebeln dich.«
    Ich antworte darauf wie immer in solchen Situationen, geduldig und mütterlich, sanfter, als meine Mutter jemals gewesen wäre, die meine zwölfjährige Stirn mit wesentlich gröberen Bewegungen kühlte, als sie unsere Schwelle wusch.
    Jetzt, wo er sein Bett kaum noch verlassen kann, ist also mein Wunsch, mit Leo Darts zu spielen, völlig absurd, lächerlich, so eindeutig irreal, dass es sogar Leo überrascht, der doch immer wieder daran glauben kann, dass er an seinen Schreibtisch zurückkehren wird, in seine Wachstube, in sein Dienstauto.
    In seine Welt, weit weg von meiner. Ich habe die Tafel mit den konzentrischen Kreisen darauf in seiner Kommode gefunden, als Abschluss seines Bollwerks gegen die Vergangenheit über dem auf dem Gesicht nach unten liegenden Foto seiner Exfrau, das wiederum auf allen ihren alten Briefen lag. Sie haben wohl beide gerne gespielt. Zusammen ihre kleinen Wünsche auf ihre kleinen Ziele im Wohnzimmer abgefeuert. Ich habe zwar die Tafel gefunden, aber keinen einzigen Pfeil, weder in der versperrten Lade noch in den anderen, und ich will kein Geld ausgeben für die Dinge, die mir außer einem einmaligen Vergnügen nichts bringen werden, das ist ein Luxus, den sich vielleicht andere gönnen können und dürfen, ich aber nicht.
    Einmal, als ich besonders einsam gewesen bin, und als ich fürchtete, den Weg nach Hause nicht mehr zu schaffen, nicht weil ich zu schwach gewesen wäre, ihn zu gehen, sondern weil ich ahnte, dass ich mich vermutlich unter den nächstbesten Zug auf die Gleise einer mir unbekannten Kleinstadt werfen könnte. Mich vor verdutzten Schulkindern und Altbauern auf die verlockenden, im Sonnenlicht gleißenden stahlblauen Metalladern des bequemeren Weges werfen. Da habe ich mir eine kleine Geige aus Steingut gekauft, eine kleine, von Hand bemalte Geige, nur so lang wie mein Zeigefinger, mit einer schönen Glasur in Blau und Weiß, wie die Tasse der Frau blau und weiß gewesen war, in deren Fenster ich in Holland starrte.
    Diese Geige war mein kleines, dampfendes warmes Zuhause geworden und mein eigener erlaubter Luxus zum höheren Zweck des Nutzens für die anderen. Weil ich mir mit dieser kleinen Geige, die ich an meine Wange gedrückt hielt, großen Tanz und schöne Abendmusik vorstellte, und ein junges Mädchen, das in keine Großstadt geht, um dort Lüge zu leben, sondern auf einen Ball, und dessen Vater, der es auf diesen Ball bringt, statt

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