Die Erdfresserin
schulterte den Rucksack und wir gingen, wie schon früher, schlitternd über das gefrorene Eis in Richtung unseres Hauses. Ich sah sie aus dem Augenwinkel an. Sie bemerkte es und blieb stehen.
»Ich sage es dir gleich: Die Stimmung ist furchtbar. Er war … wir haben ihn einsperren müssen. Mutter ist mit den Nerven fertig.«
»Wie lange habt ihr das getan?«, schreie ich.
»Solange es nötig war!«, brüllt sie zurück. »Wenn du nicht auf der ganzen Welt herumhuren würdest, wäre es wohl nicht nötig gewesen!«
Ich hebe die Hand, um sie zu schlagen, sie duckt sich.
»Soll ich hierbleiben?«, sage ich dann zuckersüß und lächle mein heimtückischstes Lächeln. »Ich mache das sehr gerne, weißt du. Ich denke die längste Zeit daran, dass ich hierbleiben möchte.«
Sie senkt den Kopf. Sie hat kleine spitze Ohren, wie die meiner Mutter, in der Kälte laufen sie rot an. Es beginnt zu schneien, der Schnee packt alles lautlos weg, dämpft unsere Schritte, dämpft unseren Atem, macht alles gleich, Boden, Himmel, Bäume, alles. Auf ihrem blonden Haar schmelzen Flocken in dunkle Sprenkel, in ihren Augen schmilzt die Wut zu wässrigen Angstlacken, in Rinnsalen die Wangen entlang, wenn der Eiswind ihr mit voller Wucht ins Gesicht bläst. Kurz vor unserem Haus bleiben wir erneut stehen, ich zögere einzutreten, ich habe Angst.
In einem der Fenster leuchtet eine Kerze, leuchtet vermutlich für mich, damit ich als heimkehrendes Schiff nicht den Heimathafen verfehle und im Nebel verlorengehe, meine Fracht ist zu wichtig, als dass ich verlorengehen dürfte.
Der Schein, den die Flamme im Halbschatten des Rahmens verursacht, springt plötzlich unruhig hin und her und wirft verzogene schwarze Flächen, jemand hat die Tür im Zimmer geöffnet, ich starre hinein und kann nicht erkennen, wer es ist, er oder sie. Ich sehe nur den Widerschein der weißen Kerze im Fenster vor dem weißen Schnee.
»Ich bleibe hier«, sage ich dann nochmals, und diesmal klingt es nicht wie Hohn.
Sie sagt: »Wie stellst du dir das vor?«
Aus dem Halbdunkel des Kerzenscheins taucht hinter dem Fensterblumeneis eine hagere Figur auf, verschwommen wie der Körper einer alten Meerfrau, wie der eines Seehundes im Becken hinter dem Glas im Wiener Zoo: meine Mutter. Sie schiebt die Gardine noch weiter zur Seite, lehnt sich gegen das Fensterglas, das beschlagen ist, um hindurchzublicken. Ihr Atem greift in die Eisblumen und dünnt sie aus, bis sie mit einer Handbewegung die gelösten Reste beiseite schiebt. Ihr Gesicht erscheint über der Kerze im Rahmen. Sie lehnt sich mit der Stirn gegen das Fenster und verzieht den Mund zu einem Lächeln. Ich sehe sie an und will es ihr so gerne glauben, die Freude, die Erwartung, will glauben, dass das mein Zuhause ist, in dem jemand sehnsüchtig auf mich wartet, in dem ein Bett gerichtet ist, ein warmes Essen. Meine Schwester zieht an dem Träger meines Rucksacks.
»Mir ist kalt hier draußen«, sagt sie. »Komm rein, wasch dich. Mutter hat ein Bad eingelassen.«
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
»Sie sagen heute nicht viel.«
»Ich habe heute nichts zu sagen.«
»Wir können gerne auch schweigen, bis Ihre Stunde um ist.«
»Warum nicht. Wir haben zu Hause auch viel geschwiegen.«
»Gut. Soll ich das Fenster aufmachen?«
»Nein.«
13
Das Haus. Unser großes, steinernes Haus, mit den dunklen Schatten im Flur, mit den immer verschlossenen Fenstern. Mit vielen Räumen, zu vielen Räumen für drei elende kleine Frauen.
Bald nach Vaters Verschwinden kamen Soldaten und nahmen meiner Mutter den Schlüssel weg und quartierten sich in unseren Schlafzimmern ein, die Bibliothek meines Vaters, in der wir im Winter mit dem Roller fahren konnten, so schnell, dass die Bücherwände zu unsteten Farbschlieren verwischten, die gefrorenen Eisblumen in den Fensterläden, war nun immer laut, eng, verraucht, die Soldaten spuckten ihren Kautabak in die Ecken, aufs Parkett, sie sangen am Abend unanständige Lieder, manchmal sogar schon in der Früh, sie belästigten uns nicht, schonten aber auch meine Mutter nicht, die sie bedienen musste, Essen bringen, Wasserkübel schleppen für ihr Badewasser und ihren Tee.
Meine Schwester und ich gingen stundenlang den immer gleichen Weg, durch einen kleinen Waldstrich, die Dorfhauptstraße entlang, zum Brunnen hinunter und wieder hinauf. In den verschneiten Wipfeln saßen schwarze Vögel und sahen uns nach. Wir wussten nicht, wie sie hießen.
Die
Weitere Kostenlose Bücher