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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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obwohl er mir völlig bedeutungslose Wortgebilde hinwirft, als ob ich in meiner Tasche nach Schreibuntensilien suchen würde oder nach Bürounterlagen. Ich habe natürlich keine, aber ich kann das Spiel jetzt nicht mehr unterbrechen. Ich will nicht, dass meine Hände enthemmt vor ihm tanzen, wenn sie nicht mit handfesten Aktionen beschäftigt sind.
    Er beugt sich näher zu mir hin, mir wird übel vor Angst, ich kann seinen Atem riechen, im Unterschied zu Leo sauber und frisch, mit einem Anklang von Kaugummipfefferminze. Er ist jung und seine Zähne noch weiß, obwohl er schon dunkle Ringe unter den Augen hat, ich sehe die Fältchen deutlich, ein feines Netz, das erst in mehreren Jahren zu richtigen tiefen Linien gerinnen wird, ich zähle sie, um ruhig zu wirken.
    »Aber, unter uns gesagt«, flüstert er verschwörerisch, »stellen S’ die Honorarnote lieber an die Francesca Habsburg, nicht an den Karl. Der ist nicht nur fetzendeppert, der hat auch kein Geld.«
    Die Menge ist dem Sarg nachgezogen. Ich bewege mich von dem Spektakel fort und arbeite mich langsam, langsam am Gitter entlang. Das Pompepizentrum verlagert sich Richtung Gruft, es kommen nicht mehr viele Marschierende nach, das Interesse der Touristen sinkt. Nur die alten Damen und Herren sind noch hier. Hinter uns stehen mehrere Rettungsautos. Ich weiche zurück, in eine Seitengasse hinein. Ich wage nicht, stehen zu bleiben. Später drücke ich mich an der abgasgeschwärzten Wand des Domes entlang, die schadenfreudigen Gargoylengesichter über mir, die Teufelsfratzen und Mariengestalten, in trauter Zweisamkeit in Stein erstarrt. Ganz hinten auf der Rückseite parkt, von niemandem beachtet, ein schlichter Leichenwagen, auf dem »Bestattung Wien« steht. Der Kaisersohn ist gekommen wie jeder andere auch, mit öffentlichen Transportmitteln. So wie ich.
    Als ich schon fast die absurde Szenerie verlassen habe, um den Stephansplatz herum, dann durch mehrere Durchgänge voller feiner Läden, die Tee und Rasierpinsel und Spitzenunterwäsche feilzubieten haben, und mich langsam, in Irrwegen und labyrinthisch verschlungenen Seitenpfaden, Leos Lieblingseissalon nähere, der in drei Minuten Luftlinie zu erreichen gewesen wäre, sehe ich eine Frau meines Alters, die mir mit entschiedenem Schritt entgegenkommt. Sie trägt ihr ergrautes Haar in einem lieblosen Herrenschnitt, vermutlich selbstgemacht. Sie trägt ein verwaschenes Hemd und ebenso fahle Jeans. Alles an ihr ist fahl, als hätte sie sich aus dem Stein des Domes gelöst, die Haut, die Kleider, die Haare. Sie sieht mich direkt an, mit ernster Miene, der Mund ist verzogen. Um den Hals trägt sie ein großes Kartonschild an einem Paketseil, in krakeligen Buchstaben steht darauf: »Bonjour Tristesse, au revoir Habsburg Noblesse.«
    Und während ich noch versuche, diesen Text zu entziffern, lacht sie wütend, wendet sich von mir ab und verschwindet in einem der leeren Gässchen. Das Grau ihres Gesichts erinnert mich an Leo. Ich drehe mich nicht mehr nach ihr um.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

»Wir sollten uns überlegen, was wir für Sie tun können.«
»Das sollten wir.«
»Könnten Sie sich vorstellen, zurückzugehen?«
»Vorstellen? Sicher.«
    12
    Meine Schwester wartete auf mich im Schnee an der Haltestelle, die Haare straff aus dem Gesicht gekämmt. Sie trug sie neuerdings so wie meine Mutter, das Gesicht war blasser als sonst, dünner. Eine Falte hatte sich um den rechten Mundwinkel gelegt, ihr Gesicht wirkte immerzu verzerrt. Ich schloss aus ihrem Auftritt, dass Pjotr vermutlich Geschichte war, wollte aber nichts dazu sagen. Wir alle haben Verluste zu ertragen, denke ich, wozu darüber reden, sie bleiben Verluste, Kollateralschäden, kleine biografische Wunden mit roten Rändern. Ich stieg aus, hob den Rucksack aus dem Bus, stellte ihn ab. Wir sahen uns an und zögerten, einander in die Arme zu fallen, sahen uns ein bisschen zu lange an und umarmten uns doch. Der Rucksack kippte auf der vereisten Fläche um, sie löste sich von mir und stellte ihn mit Anstrengung wieder gerade hin.
    »Wie war der Winter?«, fragte ich.
    »Wie immer«, sagte sie. »Der alte Michail ist am Wochenende erfroren.«
    Ich denke an all die betagten Menschen, die jedes Jahr in ihren bescheidenen Wohnungen zu Eispuppen erstarren, Rauhreif auf Wangen, Stirn und Kinn, die man besser nicht wieder auftauen sollte. Des Geruchs wegen.
    »Hat ihm denn niemand geholfen?«
    »Doch.«
    Ich

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