Die Erdfresserin
kraftlos herabfallendem, schmutzig flachsblondem Haar neben einem kleinen Gummibaum im Tontopf. So könnte Blaubarts Stiegenhaus ausgesehen haben, denke ich und denke an Annemarie und gehe sicherheitshalber näher hin. Greife vorsichtig nach den Strähnen. Es ist tatsächlich Flachs, der nicht an einem Kopf befestigt ist, sondern einfach über den Griff des Fensterrahmens gewickelt wurde, irgendwo im Haus werden Installationsarbeiten durchgeführt.
Der Anblick von Leos Tür, die zwischen mir und allem steht, was einmal da war, verpasst mir eine kurze Verkrampfung der Eingeweide. Ich bin da, um meine Sachen zu sichern. Ich bin da, um meinen Besitz abzuholen. Zu nichts sonst.
Der Rest interessiert mich nicht mehr.
Ich zögere ein wenig, probiere den Wohnungsschlüssel natürlich auch noch und scheitere zum dritten Mal. Irgendwo in der Wohnung höre ich Schritte, vorsichtige Schritte, Absätze auf Parkett, die lauter werden. Ich läute Sturm, bis die Tür langsam geöffnet wird, eine goldene Kette sichert sie, sodass es keinen Sinn ergibt, den Fuß dazwischenzuschieben oder mit Gewalt hineinzudrücken. Im Halbdunkel sehe ich den Umriss einer rundlichen Frau.
»Was wollen Sie?«
Ihre Stimme klingt aufgeregt, hoch, kindlich.
»Annemarie?«, frage ich perplex.
»Wen suchen Sie?«
»Sie sind Annemarie?«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Diana«, sage ich und lächle. Ich muss in diese Wohnung hinein, ich muss an meine Sachen.
»Sie sind hier falsch. Hier wohnt keine Annemarie.«
Ihr Auge blinzelt misstrauisch im schmalen Streifen Licht, der in den Vorraum fällt. Sie hat blonde Haare und eine Kette mit rotem Stein um den Hals, der funkelt, wenn sie Luft holt.
»Leo Brandstegl. Er hat früher hier gewohnt. Er ist tot.«
»Hier hat kein Leo Brandstegl gewohnt, seit zwanzig Jahren nicht.«
Ich fühle den Boden unter meinen Füßen in die Tiefe absinken. Und wieder diese langsame, langsame Bewegung.
»Das kann nicht sein«, stammle ich, »schauen Sie, ich hab doch noch seinen Schlüssel, da steht LEO drauf«, und ich halte ihr hilflos den Bund vor die Nase. Meine Stirn ist nass geworden.
»Vielleicht haben Sie sich im Haus geirrt«, nun klingt sie nicht mehr misstrauisch, sondern besorgt. Ich halte mich am Türrahmen fest, der Schlüsselbund, auf dem an der Innenseite des braunen Lederkärtchens die Nummer der Wohnung und des Hauses, in dem ich mich befinde, notiert ist, rutscht aus meiner Hand und fällt mit lautem Scheppern zu Boden.
»Geht es Ihnen gut?«, fragt sie, »soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
Ich drehe mich um und flüchte, ohne den Schlüsselbund aufzuheben.
*
Schwarze Äste, die sich im Licht der Gartenbeleuchtung gegen den sternenklaren Nachthimmel abzeichnen, in Reih und Glied wie riesige Soldaten, die die breite Allee säumen, die in der Ferne spitz in Finsternis zuläuft. Irgendwo ganz weit an ihrem anderen Ende steht ein entzückendes kleines Kaffeehaus, das Lusthaus genannt wird, mit einer entzückenden kleinen Terrasse, auf der ich vor sehr langer Zeit einmal mit Leo gesessen bin, weil ich mir das gewünscht hatte, Leo fühlte sich absolut deplaziert dort. Er sah sich um wie ein verängstigtes Pferd auf einer fremden Weide, das nahe am Durchgehen war. Er verschlang seinen Cappuccino noch brennheiß und beschmutzte sich mit dem Milchschaum, der darauf schwamm, konnte es kaum erwarten, das Gebäude wieder zu verlassen. Ich fühlte mich wohl dort, trank meinen Espresso frech und langsam, den abschätzigen Blicken der schön gekleideten Gäste ausgesetzt, und lachte sie an, lachte sie aus.
Genoss es, Leo in eine Lage gebracht zu haben, die von diesem Land eigentlich nur mir zugedacht war. Wir saßen in der Sonne, die blühenden Kastanienbäume, die einen intensiven Geruch nach Honig verströmten, warfen lange Schatten über den Rasen.
Damals war es angenehm warm.
Die kahlen Äste neigen sich ab und zu in Windböen, die Nacht ist klar und kühl.
Es ist weit von hier bis zum Lusthaus, man müsste zügig gehen, aber das ist nicht mein Plan. Mein Plan ist es, am Anfang der Allee auf und ab zu streifen, es ist noch nicht spät, die Jagd hat erst begonnen.
Über den Bäumen sehe ich die rot und gelb blinkenden Arme der Todeskrake, die in die Nacht greifen. Kommen Sie! Gewinnen Sie! Schallt es blechern aus dem Bereich des Vergnügungsparks herüber, von elektronischem Gewummer unterbrochen, das an den Herzschlag eines Explodierenden erinnert, die Töne sprengen einem das Hirn weg,
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