Die Erfinder des guten Geschmacks
erklärte, neue Küche würde vielleicht auch neue »Hardware« benötigen. Der Gaumenkaiser aus Lyon verwies auf die Existenz der Mikrowelle. Lahana rollte mit den Augen und erklärte, er würde dann auf die neue Küche auf Mikrowellenbasis warten.
Auch andere prominente Köche verweigerten sich der Nouvelle Cuisine. Raymond Oliver (1909-1990), Frankreichs damals prominentester Fernsehkoch, Küchenchef des Grand Véfour und Autor des ersten Multimedia-Kochbuchs Cuisinorama (mit eingelegten Schallplatten aus biegsamem Plastik), blieb der Tradition treu, servierte Fischterrinen, Neunauge Bordeleser Art oder Taube Prinz Rainier III. Sein wohl prominentester Schüler Claude Deligne (1932-2013), der von 1971 bis 1990 die Küchen des legendären Pariser Lokals Taillevent regierte, lehnte die neue Küche nicht ab und servierte die leichteren Saucen gern, wurde jedoch für seine behutsam modernisierte klassische Küche mit Gerichten wie warme Austern auf Lauch, Cervelatwurst vonMeeresfrüchten mit Pistazien oder Bresse-Poularde mit Krebsen bekannt. Beide waren als Köche erfolgreich, zur Zeit der Nouvelle Cuisine in den Medien jedoch kaum präsent.
Gab es wirklich eine neue Küche in Frankreich? Das einzige gemeinsame Merkmal der Köche, die als »neu« vermarktet wurden, war die vorübergehende Präsenz von Salaten aus al dente gegarten grünen Bohnen mit wechselndem Dekorum auf der Karte. Das konnte Foie gras oder kross gebratenes Kalbsbries sein. Ansonsten kochte jeder nach seinem eigenen Stil. Bocuse, Chapel, Troisgros, Outhier, Pic, Haeberlin, Outhier, Vergé, das waren die Namen, die in den Siebzigerjahren jedem Feinschmecker auf der Zunge lagen. Sie waren Freunde, doch ihre Küchen blieben zutiefst unterschiedlich.
Was aber war dann neu an der Nouvelle Cuisine? Die klassische Küche in der Tradition von Escoffier wurde zwar gelehrt, aber seit Jahrzehnten eher in Grandhotels oder besonders konservativen Restaurants wie dem Pariser Tour d’Argent praktiziert. Sowohl die Mütter von Lyon als auch Point oder Dumaine waren mit einer vergleichsweise simplen, frischen Küche auf Basis bester Zutaten erfolgreich. Bocuse, der angebliche Herold der Nouvelle Cuisine, setzte die Tradition Points fort, genau wie Thuilier in seiner Oustau de Baumanière.
Chapel, Troisgros und Haeberlin fühlten sich den guten Zutaten verpflichtet; bei Paul Haeberlin wurden (und werden) Gerichte wie Hummer Prinz Vladimir, Froschschenkel-Mousseline oder Rebhuhnkotelett Romanoff serviert, die noch an seinen Lehrmeister Edouard Weber erinnern. Auch Pic und Outhier kochten in den Siebzigern durchaus konservativ.
Andererseits klang »Nouvelle Cuisine« einfach gut in den Ohren der Feinschmecker und Restaurantkritiker, ähnlich wie die »Nouvelle Vague« in den Ohren der Künstler und Intellektuellen. Auch die Botschaft der schlanken Küche passte zum damaligen Lebensgefühl. Etwa zur selben Zeit verfasste ein gewisser William Bowerman 1966 ein Buch mit dem Titel Jogging . Mehr oder minder gleichzeitig gründete dieser Bowerman mit einem Partner und 500 Dollar Startkapital ein Unternehmen namens Blue Ribbon Sports, kurz BRS. Nur wenige Jahre hieß die Firma einfach Nike, nach der griechischen Siegesgöttin.
Die Speckfalten, in der Fresswelle der unmittelbaren Nachkriegszeit offensiv zur Schau getragen, waren in Gefahr. Zum Beispiel als die sehr schlanke, androgyne Britin Twiggy die Titelseiten der Magazine in »Hot Pants« zierte. Überhaupt passten überzählige Kilos nicht wirklich in die Mode aus dem »Swinging London«. Kritiker Henri Gault, der zusammen mit Christian Millau den Begriff »Nouvelle Cuisine« prägte, erläuterte Jahre später (1986) en détail, wie er Restaurants begutachtet. Wahrscheinlich ging es ihm darum, Kritik als exakte Wissenschaft darzustellen. Seitenlang erläutert er, wie jedes Gericht nach acht Kriterien begutachtet wird: Präsentation, Temperatur, Großzügigkeit, Qualität der Zutaten, Konzept, Garstufe, Realisierung, generelle Annehmlichkeit. Deren Noten werden aus rein subjektiv gewählten Prozentsätzen, die wiederum mit Koeffizienten multipliziert werden, mühsam ermittelt. Letztere stehen laut Gault für die Wichtigkeit des Kriteriums. Ganz oben steht also die »generelle Annehmlichkeit«, die auch mit komplexen Formeln nie objektiv genannt werden kann. Unten auf der Skala hingegen lümmelt die »Großzügigkeit«, womit seine Vision der »neuen Küche« hinreichend umrissen ist.
Und dann gab es noch jene
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