Die Erfinder des guten Geschmacks
überspitzt kann man sagen: Weil es Philippe gibt, gibt es bei mir Hummer.« Ultrafrische Zutaten und kurze Wege waren die ersten beiden Geheimnisse von Roellingers Fischküche.
Das dritte Geheimnis war das ungeheure Wissen, das der Bretone in Sachen Meeresfrüchte gesammelt hatte. »Alle keltischen Völker hatten den Fisch von ihren Tellern verbannt, auch wir Bretonen. Die Iren zogen es sogar vor, zu verhungern, anstatt Jakobsmuscheln vom Strand aufzulesen. Warum? Wir sind hier Seefahrer – das Meer entreißt den Leuten ihre Väter und Kinder. Das Meer war unser Feind, unser Wissen über den Fisch ist neu.« Zum Ausgleich ist der Bretone ein wandelndes Fischlexikon: Woran erkennt man frischen Rochen? »Er ist von einer Art Schleimschicht überzogen und hat einen leichten Ammoniakgeruch.« Woran sieht man, dass Petersfisch zu lange gelagert wurde? »Auch er ist dann von einer Schleimschicht überzogen und riecht nach Ammoniak.« Wie kauft man Seespinnen? »Nach Saison. Von Mai bis Juli sind die Weibchen besser, von Oktober bis Dezember die Männchen. Doch vermeiden Sie stets weiße und rote Exemplare und kaufen Sie lieber ocker- bis rostfarbene Seespinnen.«
Das vierte Geheimnis ist die Geschichte der Region: »Als Kinder haben wir auf den Festungsmauern von Saint-Malo geturnt, man hat uns die Geschichte der Korsaren erzählt, der Gewürzjäger der Compagnie des Indes. Surcouf, La Bourdonnais und all die großen Familien von Saint-Malo sind mit Gewürzen reich geworden. Diesen Esprit wollte ich auf den Teller bringen.« Entsprechend setzt Roellinger für sein Leben gern Gewürze und Kräuter ein. Gewürzkoch haben Kritiker ihn genannt. Das klang, als würde er Makrelen unter Currykruste begraben. Tatsächlich gibt es in den Maisons de Bricourt keinerlei intensiven Gewürzeinsatz, dafür aber sanfte Aromenspiele: Crevetten garte Roellinger leicht an, servierte sie mit einer Spur Malz, zu warmen Austern mit Kohl und Ingwer gesellte sich gegrillter Leinsamen. Winzige Artischocken, eine Spur Oregano und ein winziger Spritzer Rum hauchten Rotbarben nie gekannten Geschmack ein. An den kleinen Hummer mit Aromen der Gewürzinsel gehören unter anderem Galgant-Wurzeln, Tamarinde und Rocou-Körner, der Petersfisch »Retour des Indes«, ein Roellinger-Klassiker, wird mit Kokosmilch, Zitronengras, Lilienblättern und einer Mischung aus 14 Gewürzen abgeschmeckt. Und doch: Der unverfälschte Geschmack des Fisches steht im Vordergrund, in den Maisons de Bricourt wird nichts maskiert.
Das letzte Geheimnis des Olivier Roellinger war seine eigene Geschichte: »Ich bin Autodidakt, eine Kochlehre im klassischen Sinn habe ich nicht absolviert. Anders als manche Kollegen besuche ich auch nie andere Restaurants, um Anregungen zu sammeln.« Ursprünglich war er Chemiestudent. Sein Leben änderte sich radikal, als er im nahen Saint-Malo von fünf Unbekannten zusammengeschlagen wurde und ins Koma fiel. »Als ich damals Jahre im Rollstuhl saß, wollte ich mit allem brechen, was wissenschaftlich und rational ist, um mich all dem zuzuwenden, wassinnlich, lebendig und sensibel ist – eben das Gegenteil von der Kälte, die ich im Studium kennengelernt hatte.«
Roellinger borgte sich 36 000 Euro, kaufte einen gebrauchten Herd, wandelte das Herrenhaus der Eltern nahe dem Marktplatz im benachbarten Cancale zum Restaurant um. Und er schwor seiner Frau Jane: »Eines Tages wird Bocuse nach Cancale kommen, um bei uns zu essen.« So weit war er damals, 1982, noch lange nicht: »Mit meinem heutigen Küchenchef Dédé stand ich allein am Herd, meine Mutter kümmerte sich um die Desserts, Jane bewirtete die Gäste.« Und die kamen ausschließlich am Samstag und Sonntag. »Von Montag bis Freitag hatte ich Zeit zum Experimentieren.«
Die neuen Ideen setzten sich schnell durch, Kritiker begannen, von »Roellingers Stil« zu sprechen. Das Restaurant avancierte zum Wallfahrtsort für Fischliebhaber. Und der Herr am Herd erweiterte sein kleines Reich: Weil die Gäste an der Küste weites Meer und malerische Sonnenuntergänge sehen wollten, kaufte er das schlicht-schöne Cottage Les Rimains, später auch das elegante Château-Richeux mit dem Bistro Le Coquillage hinzu. Wohlgerüche locken in Roellingers Bäckerei Grain de Vanille mit ihren Butterkeksen, duftigen Kakaos und hausgemachter Eiscreme. Eine eigene Backstube und 2500 Pflanzenarten bereichern den Garten des Château. Dazu gibt es noch die Gîtes Marins , große, familienfreundliche
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