Die Erfinder des guten Geschmacks
folgt dem alten Hirtenpfad auf den Berg, der Himmel über der Auvergne bestimmt die Farben in den Zimmern und im Speisesaal. Vor jede Terrasse habe ich außerdem ein paar Bergkräuter pflanzen lassen.«
Die Wiesen der großartigen französischen Landschaft der Auvergne bestimmten auch das Geschehen auf dem Teller: Um die 350 verschiedene Kräuter und Gewürze wurden pro Jahr in der Küche verwendet; das beliebteste Gericht war der Gargouillou, bei dem nicht weniger als 18 Gemüse dafür sorgten, dass jeder Bissen anders schmeckte.
Zur Bras’schen Küchenphilosophie gehörte es, dass seine Kreationen mit dem Laguiole, dem Hirtenmesser der Region, zerteilt werden mussten. »Bei uns in der Gegend ist das Laguiole ein Freund fürs Leben. Für unseren Gast soll es ein Freund während des Menüs sein, deshalb decken wir nicht mehrfach ein, sondern leihen ihm ein Messer. Mit diesen Tischsitten werden wir wohl nie den dritten Stern erhalten«, erläuterte Bras einmal. Den metallenen Freund soll der Gast zwischen den Gängen selbst mit einem Stück Brot reinigen. Den Stern bekam er trotzdem.
Manchmal beließ Bras – Präzision muss sein – auf der Karte seinen Kräutern und Gemüsen sogar ihre botanischen Namen: Tricholoma terreum und Tricholima equestre , zwei Arten von Ritterlingen, zur Rehterrine, Boletus edulis (eine Steinpilzart) mit Schinken im Dampf gegart, Cantharellus tubaeformis (ein Pfifferling) zur Dorade. Wie der Blick in seine Küche zeigte, war Bras eher pedantischer Handwerker als unbekümmerter Aufkocher und musste sich den Weg zu den Sternen hart erarbeiten. Ein Koch, der seinen eigenen Ideen so lange misstraut, bis sie sich in der täglichen Praxis bewährt haben. Einer, der nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum ebenso systematisch neue Gerichte austestet, wie er im Büro an seinem Computer auch die kleinsten Details seines Hauses mit einem Tastendruck aufrufen konnte. Die Kräuter-Cuisine war für ihn alles andere als eine kreative Laune: »Das terroir – also die Region mit all ihren Traditionen – findet man nicht nur im Museum und in Großmutters Rezepten. Terroir muss man leben, das ist für mich mehr als alte Rezepte. Das kann der Duft einer Pflanze sein oder ein spezielles Licht – all das möchte ich in meiner Küche rüberbringen. Eine erdverbundene Küche, für die ich die Zutaten freilich anderswo suchen muss, denn bei uns gibt es nur Käse, Wurst und ein wenig Wein.« Dicke schwarze Kumuluswolken über dem Aubrac-Plateau inspirierten ihn zu einem Gericht mit Lotte in Olivenöl-Emulsion, der »Gargouillou« repräsentierte für ihn »Frühling und Lebensfreude in der Region«: »Das bewegt sich, das lebt.« Und natürlich ist für das Nationalgericht der Auvergne auf jeder Karte ein Ehrenplatz reserviert: Das Aligot (eine Mischung aus jungem Cantal und Kartoffelbrei) geriet dem Cuisinier aus der Auvergne so locker und leicht, dass sich alle anderen Versionen dagegen wie Wackersteine ausnehmen.
Inzwischen hat Michel Bras das Restaurant an seinen Sohn Sébastien übergeben, der einen anderen Stil der Küche favorisiert.
Der Meister des Meeres
Der beste Koch der westlichen Welt für Fische und Meeresfrüchte hieß Olivier Roellinger (*1955) und stammt aus dem bretonischen Dorf Cancale.
In der Küche wirkte der schlanke Mann in Weiß stets hoch konzentriert und zögerte nicht, selbst Hand anzulegen: Mit schwungvoller Handbewegung malte er zum Beispiel eine Spur Sherrysauce auf einen Teller mit bretonischem Hummer, rundete sein Werk mit einer Spitze Kakao ab. Dem Gast sollte es überlassen bleiben, das delikate Krustentier nach seinem Geschmack mit der sanften Würze anzureichern. »Saucen und Jus trage ich gern abschließend selbst auf«, sagte der Meister und strich sich das Haar aus der Stirn. »Das ist vielleicht nostalgisch, denn natürlich können meine Küchenchefs sie alle perfekt reproduzieren.« Nostalgisch sicher, aber vielleicht auch eine Art symbolische Signatur. Wie ein Maler, der seinen Namen unter ein Bild setzt.
Sein Lokal lag in seinem Geburtshaus im Fischerort Cancale, und das war ein klarer Standortvorteil: Keine einzige Zutat kam vom Pariser Großmarkt Rungis, die Lieferanten waren Freunde und Nachbarn. Die Gemüse stammten von Michael Robin, einem Bio-Bauern, Fische kamen von Ferrantin & Tachet, Miesmuscheln und Austern von Michel Daniel unten am Quai Kennedy im selben Dorf. Hummer zog Philippe Couapel mit seinem Fischerboot Ti’Pagaille an Land. »Leicht
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