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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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war der, den man zurückgelassen hatte, damit er für sie sorgte. Es wäre jedoch falsch zu sagen, er sei ein Muttersöhnchen gewesen. Dazu war er zu unabhängig, zu beeinflusst von den männlichen Verhaltensweisen seiner Brüder. Er war gut zu ihr, pflichtbewusst und aufmerksam, aber nicht ohne eine gewisse Distanz und sogar Humor. Nachdem er geheiratet hatte, rief sie oft bei ihm an, um ihm alle möglichen Predigten zu halten. Dann legte mein Vater den Hörer auf den Tisch, ging ans andere Ende des Zimmers und beschäftigte sich ein paar Minuten lang mit irgendeiner Hausarbeit, ging zum Telefon zurück, nahm den Hörer wieder auf, sagte irgend etwas Harmloses, um sie wissen zu lassen, dass er noch da war (aha, aha, mmmmmm, stimmt), entfernte sich von neuem, und so immer hin und her, bis sie sich ausgeredet hatte.
    Der komische Aspekt seiner Beschränktheit. Und manchmal war ihm das durchaus nützlich.

    In meiner Erinnerung ist sie ein winziges verhutzeltes Wesen, das im vorderen Salon eines Zweifamilienhauses im Newarker Stadtteil Weequahic sitzt und den Jewish Daily Forward liest. Obwohl ich wusste, dass ich es bei jedem Besuch tun musste, schauderte ich jedes Mal zusammen, wenn ich ihr einen Kuss gab. Ihr Gesicht war so runzlig, ihre Haut so unmenschlich weich. Noch schlimmer war ihr Geruch – ein Geruch, den ich später als den von Kampfer identifizieren konnte; sie wird das Zeug in ihren Kommoden gehabt haben, und von dort muss es im Lauf der Jahre in ihre Kleider eingezogen sein. Dieser Geruch und der Begriff «Oma» gehörten für mich zusammen.
    Soweit ich mich erinnern kann, hatte sie so gut wie kein Interesse an mir. Ein einziges Mal schenkte sie mir etwas, ein Kinderbuch aus zweiter oder dritter Hand, eine Biographie über Benjamin Franklin. Ich erinnere mich, es von vorn bis hinten durchgelesen zu haben, und einige Episoden sind mir sogar im Gedächtnis geblieben. Zum Beispiel, wie Franklins zukünftige Frau ihn anlächelte, als sie ihn zum ersten Mal sah – da schritt er mit einem riesigen Brotlaib unterm Arm durch die Straßen von Philadelphia. Das Buch hatte einen blauen Umschlag und war mit Scherenschnitten illustriert. Ich muss damals sieben oder acht Jahre alt gewesen sein.
    Nach dem Tod meines Vaters entdeckte ich im Keller seines Hauses einen Koffer, der früher seiner Mutter gehört hatte. Er war verschlossen, und da ich annahm, er könnte irgendein Geheimnis bergen, irgendeinen verloren geglaubten Schatz, beschloss ich, ihn mit Hammer und Schraubenzieher aufzubrechen. Als der Verschluss abfiel und ich den Deckel anhob, war er auf einmal wieder da – dieser Geruch, schier greifbar wehte er zu mir hoch, als wäre es meine Großmutter selbst gewesen. Ich hatte ein Gefühl, als hätte ich ihren Sarg aufgeklappt.
    Interessantes war nicht darin: ein Satz Schnitzmesser, ein Haufen künstlichen Schmucks. Ferner eine elegante Handtasche aus Hartplastik, eine Art achteckige Schachtel mit Griff. Ich gab sie Daniel, und er benutzte sie gleich als tragbare Garage für seinen Fuhrpark von Autos und kleinen Lastwagen.

    Mein Vater hat sein Leben lang hart gearbeitet. Mit neun hatte er seinen ersten Job. Mit achtzehn hatte er zusammen mit einem seiner Brüder eine Radioreparaturwerkstatt. Von einer sehr kurzen Zeitspanne abgesehen, wo er als Assistent in Thomas Edisons Laboratorium angestellt war (schon am ersten Tag wurde ihm gekündigt, als Edison erfuhr, dass er Jude war), hat mein Vater nie für jemand anderen gearbeitet als sich selbst. Er war ein sehr anspruchsvoller Boss, wesentlich strenger, als irgendein Fremder es hätte sein können.
    Die Radiowerkstatt gedieh zu einem kleinen Zubehörladen, der wiederum zu einem großen Möbelgeschäft gedieh. Nun begann er sich nebenher mit Immobilien zu beschäftigen (zum Beispiel kaufte er ein Haus für seine Mutter), bis diese Betätigung den Möbelladen allmählich verdrängte und zu einem eigenen Erwerbszweig wurde. Die Partnerschaft mit zweien seiner Brüder blieb während all dieser Etappen bestehen.
    Frühmorgens aus den Federn, spätabends wieder zu Hause, und dazwischen nichts als Arbeit und noch mal Arbeit. Arbeit war der Name des Landes, in dem er lebte, und er war einer seiner größten Patrioten. Was jedoch nicht heißen soll, dass Arbeit ihm Vergnügen bereitete. Er arbeitete so hart, weil er so viel Geld wie möglich verdienen wollte. Arbeit war ein Mittel zum Zweck – ein Mittel, Geld zu machen. Doch auch dieser Zweck konnte ihm kein

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