Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
über mehr als sechzig Jahre.
    Sie nahmen Gewohnheiten voneinander an, Redewendungen, kleine Gesten: Diese vermischten sich so sehr, dass unmöglich zu erkennen war, wer von ihnen als erster irgendeine bestimmte Einstellung oder Idee geäußert hatte. Die Gefühle meines Vaters waren unerschütterlich: Nie hat er ein Wort gegen einen seiner Brüder gesagt. Im Übrigen beurteilte er den anderen nicht nach dem, was er tat, sondern nach dem, was er war. Auch wenn einer der Brüder ihn zufällig einmal kränkte oder etwas Tadelnswertes tat, weigerte sich mein Vater, darüber zu urteilen. Er ist mein Bruder, pflegte er zu sagen, als wenn damit alles erklärt wäre. Bruderschaft war das Leitprinzip, die unangreifbare Grundbedingung, der einzige Glaubensartikel. Wie beim Glauben an Gott war es Ketzerei, daran zu rütteln.
    Als Jüngster war mein Vater nicht nur der treueste der vier, sondern auch der von den anderen am wenigsten respektierte. Er arbeitete am härtesten, er war seinen Neffen und Nichten gegenüber am großzügigsten, aber all das wurde nie richtig anerkannt und noch viel weniger gewürdigt. Meine Mutter erinnert sich, dass am Tag ihrer Hochzeit, auf der Party im Anschluss an die Zeremonie, einer der Brüder ihr einen unsittlichen Antrag machte. Ob er die Sache tatsächlich zu Ende gebracht hätte, ist eine andere Frage. Aber die bloße Tatsache, dass er so an sie herangetreten war, lässt erahnen, was er von meinem Vater hielt. So etwas tut man nicht am Hochzeitstag eines Mannes, selbst wenn es der eigene Bruder ist.

    Im Mittelpunkt des Klans stand meine Großmutter, eine jüdische Mammy Yokum, eine Mutter, wie es sie nur einmal gibt. Grimmig, eigensinnig, der Boss. Dass die Brüder so an ihr hingen, beruhte auf herkömmlicher Ergebenheit. Noch als Erwachsene mit Frauen und eigenen Kindern besuchten sie sie jeden Freitag zum Abendessen – ohne ihre Familien. Diese Beziehung war die wichtigste, und sie hatte Vorrang vor allen anderen. Das muss schon etwas leicht Komisches gehabt haben: vier große Männer, jeder über einsachtzig, warten einer alten Frau auf, die über einen Kopf kleiner ist als sie.
    Bei einer der wenigen Gelegenheiten, wo sie ihre Frauen mitgebracht hatten, kam zufällig eine Nachbarin herein und war überrascht, eine so große Versammlung anzutreffen. Ist das Ihre Familie, Mrs. Auster? fragte sie. Ja, erwiderte sie mit einem breiten, stolzen Lächeln. Darf ich vorstellen? –. Und –. Und –. Und schließlich Sam. Die Nachbarin war ein wenig erstaunt. Und diese reizenden Damen? fragte sie. Wer ist das? Ach, antwortete sie mit einer lässigen Handbewegung. Das ist die von –. Und die von –. Und die von –. Und die von Sam.
    Das Bild, das die Zeitung in Kenosha von ihr entworfen hatte, war durchaus nicht ungenau. Sie lebte für ihre Kinder. (Anwalt Baker: Wohin könnte eine Frau mit fünf solchen Kindern schon gehen? Sie hängt an ihnen, und das Gericht kann sehen, dass sie an ihr hängen.) Zugleich aber war sie eine Tyrannin, die herumschrie und hysterische Anfälle hatte. Wenn sie wütend war, schlug sie ihre Söhne mit einem Besen auf den Kopf. Sie verlangte Ergebenheit, und die bekam sie.
    Als mein Vater einmal beim Zeitungsaustragen die gewaltige Summe von zehn oder zwanzig Dollar gespart hatte, um sich ein neues Fahrrad zu kaufen, kam eines Tages seine Mutter ins Zimmer, zerschlug sein Sparschwein und nahm ihm ohne ein Wort der Erklärung das Geld weg. Sie brauchte es, um ein paar Rechnungen zu bezahlen, und mein Vater hatte niemanden, an den er sich wenden konnte, und keine Möglichkeit, seinem Groll Luft zu machen. Als er mir diese Geschichte erzählte, beabsichtigte er damit nicht, mir zu zeigen, welches Unrecht seine Mutter ihm angetan hatte, sondern wollte mir demonstrieren, dass das Wohlergehen der Familie stets wichtiger war als das eines ihrer Mitglieder. Kann sein, dass er unglücklich war, aber beklagt hat er sich nicht.
    Sie war eine launische Herrscherin. Für einen kleinen Jungen bedeutete das, dass jederzeit der Himmel über ihm einstürzen konnte, dass er sich nie irgendeiner Sache sicher sein konnte. Daraus lernte er, niemandem zu trauen. Nicht einmal sich selbst. Immer kam irgend jemand daher und zeigte ihm, dass das, was er dachte, falsch war, dass es nichts zu sagen hatte. Er lernte, sich nie etwas allzu sehr zu wünschen.
    Mein Vater wohnte bei seiner Mutter, bis er älter war als ich jetzt. Er war der Letzte, der sich auf eigene Füße stellte, er

Weitere Kostenlose Bücher