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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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man ihn einen durch Abwesenheit glänzenden Hausbesitzer nennen. Er war da , und er leistete Arbeitsstunden ab, die auch den pflichtbewusstesten Angestellten in den Streik getrieben hätten.
    Die Arbeit war ein ständiger Drahtseilakt. Häuser kaufen und verkaufen, Inventar anschaffen und reparieren, mehrere Reparaturtrupps dirigieren, Wohnungen vermieten, Verwalter beaufsichtigen, Mieterbeschwerden anhören, Besuche von Bauinspektoren über sich ergehen lassen, ewig Scherereien mit Wasser- und Stromgesellschaften haben, ganz zu schweigen von häufigen Gerichtsbesuchen – sowohl als Kläger wie als Beklagter –, um Mietrückstände einzuklagen, um sich wegen Vertragsverletzungen zu verantworten. Alles passierte immer auf einmal, eine ständige Attacke aus einem Dutzend Richtungen gleichzeitig, und nur ein Mann, der die Dinge so leicht nahm wie er, konnte damit fertig werden. An keinem einzigen Tag war es möglich, alles zu tun, was zu tun war. Man ging nicht nach Hause, weil man fertig war, sondern einfach, weil es spät war und einem die Zeit davonlief. Am nächsten Tag erwarteten einen all die alten Probleme – und ein paar neue dazu. Es hörte nie auf. In fünfzehn Jahren hat er nur zweimal Urlaub gemacht.
    Er war weichherzig mit den Mietern – gewährte ihnen Zahlungsaufschub, schenkte ihnen Kleider für ihre Kinder, half ihnen bei der Arbeitssuche –, und sie hatten Vertrauen zu ihm. Alte Männer, die Angst hatten, ausgeraubt zu werden, gaben ihm ihre wertvollsten Besitztümer zur Aufbewahrung im Safe seines Büros. Er war der Einzige von seinen Brüdern, zu dem die Leute mit ihren Problemen kamen. Niemand sagte Mr. Auster zu ihm. Er war immer Mr. Sam.
    Als ich nach seinem Tod das Haus aufräumte, stieß ich ganz unten in einer Küchenschublade auf folgenden Brief. Von allem, was ich im Haus gefunden habe, hat dies mich am glücklichsten gemacht. Irgendwie bringt es das Konto ins Gleichgewicht, liefert mir einen greifbaren Beweis, wann immer ich zu weit von den Tatsachen abzuschweifen beginne. Der Brief ist adressiert an «Mr. Sam», und die Handschrift ist nahezu unleserlich.
19. April 1976
Lieber Sam,
ich weiß, Sie werden überrascht sein, von mir zu hören. Am besten stell ich mich Ihnen erst mal vor. Ich heiße Mrs. Nash und bin Albert Groovers Schwägerin – Mrs. Groover und Albert haben so lange in der 285 Pine Street in New Jersey gewohnt, und Mrs. Banks, das ist auch eine Schwester von mir. Na ja, falls Sie sich noch erinnern.
Sie haben damals dafür gesorgt, dass meine Kinder und ich die Wohnung in der 327 Johnston Ave. bekommen haben, gleich um die Ecke von Mr. und Mrs. Groover, was meine Schwester ist.
Jedenfalls zieh ich da aus mit 40 $ Mietschulden, das war 1964, aber ich hab nicht vergessen, dass ich diese schwere Schuld zurückgelassen hab. Hier ist also jetzt Ihr Geld. Danke, dass sie damals so nett waren zu den Kindern und mir. Das soll Ihnen zeigen, wie dankbar ich bin für das, was sie für uns getan haben. Ich hoffe, Sie können sich noch an die Zeit erinnern. Ich hab Sie nie vergessen.
Vor ungefähr drei Wochen hab ich in Ihrem Büro angerufen, aber Sie waren nicht da. Möge der liebe Gott Sie immer segnen. Ich komme kaum nach Jersey City, und wenn doch, würde ich Sie mal besuchen.
Jedenfalls bin ich jetzt froh, diese Schuld zu begleichen. Das wär’s.

Hochachtungsvoll
Mrs. JB. Nash
    Als Kind begleitete ich ihn gelegentlich, wenn er von Wohnung zu Wohnung zog und die Miete einkassierte. Ich war zu jung, um zu begreifen, was ich da sah, aber ich erinnere mich an den Eindruck, den das auf mich machte, als wären die ungefilterten Wahrnehmungen, eben weil ich nichts davon begriff, direkt in mich eingedrungen, wo sie noch heute so schmerzlich stecken wie ein Splitter im Daumen.
    Die Holzgebäude mit ihren dunklen, ungastlichen Fluren. Und hinter jeder Tür eine Horde von Kindern, die in einer kahlen Wohnung spielten; eine stets mürrische Mutter, überarbeitet, erschöpft, über ein Bügelbrett gebeugt. Besonders lebhaft erinnere ich mich an den Geruch, als wäre Armut nicht bloß Geldmangel, sondern ein körperliches Gefühl, ein Gestank, der einem in den Kopf dringt und alle Gedanken erstickt. Jedes Mal wenn ich mit meinem Vater ein Haus betrat, hielt ich die Luft an, wagte nicht zu atmen, als könnte dieser Geruch mir Schmerzen bereiten. Die Leute waren immer glücklich, Mr. Sams Sohn kennenzulernen. Alle lächelten mich an und tätschelten mir den Kopf.
    Einmal,

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