Die Erfindung der Einsamkeit
einzelnen Geschworenen die Hand schüttelte. ‹Solange Harry am Leben war›, sagte sie zu einem von ihnen, ‹hatte ich Angst. Wahres Glück habe ich nie kennengelernt. Gewiss bedaure ich, dass er von meiner Hand sterben musste. Aber ich bin jetzt so glücklich, wie ich mir nur wünschen kann …›
Mrs. Auster verließ den Gerichtssaal in Begleitung ihrer Tochter … und der zwei jüngsten Kinder, die geduldig im Saal auf die Bekanntgabe des Urteils, das ihre Mutter freisprach, gewartet hatten …
Sam Auster im Bezirksgefängnis … kann das alles zwar nicht begreifen, sagt aber, er wolle sich in die Entscheidung der zwölf Geschworenen fügen …
‹Als ich gestern Abend von dem Urteil erfuhr›, sagte er bei einem Gespräch am Sonntagmorgen, ‹bin ich zusammengebrochen. Ich konnte nicht glauben, dass sie ungestraft davonkommen sollte, nachdem sie meinen Bruder und ihren Mann getötet hat. Das ist mir zu hoch. Ich begreife das nicht, aber ich will es hinnehmen. Ich habe einmal versucht, die Sache auf meine Weise zu bereinigen, und das ist fehlgeschlagen, und jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als die Entscheidung des Gerichts zu akzeptieren.›»
Tags darauf kam auch er auf freien Fuß. «‹Ich werde wieder in der Fabrik arbeiten›, erklärte Auster dem Bezirksstaatsanwalt. ‹Sobald ich das Geld zusammenhabe, werde ich auf dem Grab meines Bruders einen Grabstein errichten lassen, und dann werde ich meine Kraft für die Unterstützung der Kinder eines meiner Brüder einsetzen, der in Österreich gelebt hat und im Kampf gefallen ist.›
Die Verhandlung vom heutigen Morgen ergab, dass Sam Auster der letzte der fünf Auster-Brüder ist. Drei von ihnen hatten im Weltkrieg aufseiten Österreichs gekämpft, und sie alle sind im Kampf gefallen.»
Im letzten Absatz des letzten Artikels über den Fall berichtet die Zeitung: «Mrs. Auster hat vor, innerhalb der nächsten Tage mit ihren Kindern nach Osten zu gehen … Es heißt, Mrs. Auster habe sich dazu auf Anraten ihres Anwalts entschlossen, der ihr gesagt habe, sie sollte sich eine neue Heimat suchen und irgendwo, wo niemand etwas von dem Prozess wüsste, ein neues Leben beginnen.»
Ein Happy End, nehme ich an. Zumindest für die Zeitungsleser in Kenosha, für den geschickten Anwalt Baker und zweifellos auch für meine Großmutter. Über das weitere Schicksal der Familie Auster wird freilich nichts gesagt. Die öffentliche Berichterstattung endet mit jener Ankündigung ihrer Abreise nach Osten.
Da mein Vater mir selten von der Vergangenheit erzählte, erfuhr ich von den späteren Ereignissen nur sehr wenig. Doch aus diesem wenigen konnte ich mir eine recht gute Vorstellung von dem Klima bilden, in dem die Familie lebte.
Zum Beispiel sind sie ständig umgezogen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass mein Vater in einem einzigen Jahr zwei oder gar drei verschiedene Schulen besuchte. Da sie kein Geld hatten, waren sie unablässig auf der Flucht vor Vermietern und Gläubigern. Dieses Nomadentum musste bei einer Familie, die sich ohnehin auf sich selbst zurückgezogen hatte, zu völliger Isolierung führen. Es gab keine dauerhaften Bezugspunkte: kein Haus, keine Stadt, keine Freunde, auf die man zählen konnte. Nur die Familie selbst. Es war so ähnlich, als hätten sie in Quarantäne gelebt.
Mein Vater war das Baby, und sein ganzes Leben lang sah er zu seinen drei älteren Brüdern auf. Als Kind hatte er den Spitznamen Sonny. Er litt an Asthma und Allergien, kam in der Schule gut zurecht, spielte als Schlussmann im Football-team und lief die 440 Yards für die Leichtathletikmannschaft der Central High in Newark. Er graduierte im ersten Jahr der Depression, studierte ein oder zwei Semester Jura an der Abendschule und stieg dann aus, genau wie seine Brüder es vor ihm getan hatten.
Die vier Brüder hielten zusammen. Ihre Anhänglichkeit hatte etwas schier Mittelalterliches. Obwohl sie manche Differenzen hatten und sich in vielerlei Hinsicht gar nicht ausstehen konnten, bilden sie in meiner Vorstellung nicht vier einzelne Individuen, sondern einen Klan, ein vierfaches Bild der Solidarität. Drei von ihnen – die drei jüngeren – wurden zu Geschäftspartnern und lebten in derselben Stadt, und der vierte, der nur zwei Städte entfernt wohnte, wurde von den drei anderen bei der Einrichtung seines eigenen Geschäfts unterstützt. Es gab kaum einen Tag, an dem mein Vater seine Brüder nicht sah. Und zwar sein ganzes Leben lang: Tag für Tag
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