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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Vergnügen bereiten. Wie schrieb der junge Marx: «Wenn Geld das Band ist, das mich ans menschliche Leben bindet, die Gesellschaft an mich bindet, mich und die Natur und den Menschen bindet, ist Geld dann nicht das Band aller Bande? Kann es nicht alle Bande lösen und binden? Ist es daher nicht das universale Mittel der Trennung ?»
    Er träumte sein Leben lang davon, Millionär zu werden, der reichste Mann der Welt zu sein. Er wollte nicht so sehr das Geld selbst, sondern das, was es repräsentierte: nicht bloß Erfolg in den Augen der Welt, sondern ein Mittel, das ihn unberührbar machte. Geld haben bedeutet mehr, als sich alles mögliche kaufen zu können: Es bedeutet, dass die Welt einen nichts mehr anzugehen braucht. Geld demnach im Sinne von Schutz, nicht als Vergnügen. Da er als Kind kein Geld hatte und somit den Launen der Welt ausgesetzt war, wurde die Vorstellung von Reichtum für ihn gleichbedeutend mit der Vorstellung von Flucht: vor Schaden, vor Leid, vor der Rolle des Opfers. Er versuchte nicht, sich das Glück zu kaufen, sondern ganz einfach die Abwesenheit von Unglück. Geld war das Allheilmittel, die Verkörperung seiner tiefsten, unaussprechlichsten Sehnsüchte als menschliches Wesen. Er wollte es nicht ausgeben, er wollte es besitzen, er wollte wissen, dass es da war. Geld also nicht als Elixier, sondern als Gegengift: das kleine Medizinfläschchen, das man bei sich trägt, wenn man in den Dschungel geht – für den Fall, dass man von einer Giftschlange gebissen wird.

    Manchmal wurde sein Widerwillen dagegen, Geld auszugeben, geradezu krankhaft. Zwar ging dies nie so weit, dass er sich etwas ausschlug, was er brauchte (denn seine Bedürfnisse waren minimal); die Sache war subtiler: Er wählte nämlich jedes Mal, wenn er etwas kaufen musste, das Billigste. Schnäppchenjägerei als Lebensstil.
    Mit dieser Einstellung verbunden war so etwas wie eine Primitivität der Wahrnehmung. Alle Unterscheidungen wurden weggewischt, alles wurde auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht. Fleisch war Fleisch, Schuhe waren Schuhe, ein Schreibgerät war ein Schreibgerät. Es spielte keine Rolle, dass man zwischen Kotelett und Filet wählen konnte, dass es Wegwerfkulis für neununddreißig Cents gab und Federhalter für fünfzig Dollar, die zwanzig Jahre lang halten würden. Das wahrhaft Gute war geradezu ein verabscheuungswürdiger Gegenstand: Man musste einen übermäßigen Preis dafür bezahlen, und das machte es moralisch zweifelhaft. Allgemeiner gesprochen, übertrug sich dies in einen permanenten Zustand sinnlicher Verarmung: Indem er seine Augen vor so vielem verschloss, versagte er sich den vertrauten Umgang mit den Formen und Substanzen der Welt, entzog sich die Möglichkeit, ästhetisches Vergnügen zu empfinden. Für ihn war die Welt nach zweckmäßigen Kriterien geordnet. Jedes Ding darin hatte einen Wert und einen Preis, und es ging darum, die Dinge, die man brauchte, zu einem Preis zu bekommen, der ihrem Wert möglichst entsprach. Jedes Ding wurde ausschließlich nach seiner Funktion bewertet, ausschließlich nach seinem Preis beurteilt, nie als wesenhafter Gegenstand mit besonderen Eigenschaften, die nur ihm gehören. Ich stelle mir vor, dass die Welt ihm ziemlich langweilig vorgekommen sein muss. Eintönig, farblos, ohne Tiefe. Wer die Welt nur aus dem Blickwinkel des Geldes betrachtet, sieht am Ende überhaupt nichts mehr.

    Als Kind war mir sein Auftreten in der Öffentlichkeit manchmal ausgesprochen peinlich, wenn er, wütend über einen hohen Preis, mit Ladenbesitzern feilschte und zankte, als stünde seine Männlichkeit auf dem Spiel. Eine deutliche Erinnerung daran, wie alles in mir sich verkrampfte, wie ich mich nur noch wegwünschte. Besonders einmal, als wir zusammen einen Baseballhandschuh kaufen gingen. Zwei Wochen lang war ich täglich nach der Schule bei dem Laden vorbeigegangen, um den zu bewundern, den ich haben wollte. Und als dann mein Vater eines Abends mit mir zu dem Laden gegangen war, um ihn zu kaufen, schrie er den Verkäufer dermaßen an, dass ich Angst bekam, er würde ihn in Stücke reißen. Verängstigt und angewidert sagte ich ihm, er solle sich nicht aufregen, ich wolle den Handschuh gar nicht mehr. Als wir den Laden verließen, wollte er mir ein Eis spendieren. Der Handschuh war sowieso nicht gut, sagte er. Irgendwann kaufe ich dir einen besseren.
    Besser bedeutete natürlich: schlechter.

    Wütende Predigten, wenn im Haus zu viele Lampen an waren. Er legte stets

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