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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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erleben wir aber ein großes Abenteuer, ja?»
    Den ganzen folgenden Sommer lang war Superman seine Leidenschaft, seine Obsession, der alles umgreifende Sinn seines Lebens. Er weigerte sich, irgendein anderes Hemd zu tragen als das blaue mit dem S. vorne drauf. Seine Mutter nähte ihm einen Umhang, und jedes Mal, wenn er nach draußen ging, zog er ihn an, rannte mit nach vorne gestreckten Armen durch die Straßen, als flöge er, und blieb nur stehen, um jedem Passanten unter zehn Jahren zu verkünden: «Ich bin Superman!» A. fand das alles sehr amüsant, denn er konnte sich an Ähnliches aus seiner eigenen Kindheit erinnern. Die Besessenheit als solche gab ihm ebenso wenig zu denken wie der Zufall, dass er die Leute kannte, die den Film gemacht hatten, der zu dieser Besessenheit geführt hatte. Eher etwas anderes. Immer wenn er seinen Sohn Superman spielen sah, dachte er unwillkürlich an seinen Freund S., als bezöge sich selbst noch das S auf dem T-Shirt seines Sohnes nicht auf Superman, sondern auf seinen Freund. Und er wunderte sich über diesen Streich, den sein Kopf ihm da spielte, indem er immer wieder eine Sache in eine andere verwandelte, als befände sich hinter jedem realen Gegenstand ein Schattengegenstand, der in seinem Geist genauso lebendig war wie das, was er mit den Augen wahrnahm; und am Ende konnte er gar nicht mehr sagen, was er davon nun eigentlich wirklich sah. Und daher kam es ihm häufig so vor, als hätte sein Leben sich aus der Gegenwart zurückgezogen.

    Das Buch der Erinnerung. Buch neun.
    Während der meisten Zeit seines Lebens als Erwachsener hat er sein Geld damit verdient, die Bücher anderer Schriftsteller zu übersetzen. Er sitzt an seinem Schreibtisch und liest das betreffende Buch in Französisch. Dann nimmt er seinen Federhalter und schreibt dasselbe Buch in Englisch. Es ist zugleich dasselbe Buch und nicht dasselbe, und das Seltsame dieses Tuns beeindruckt ihn bis auf den heutigen Tag. Jedes Buch ist ein Bild der Einsamkeit. Es ist etwas Greifbares, man kann es nehmen, weglegen, aufschlagen und zuklappen, und die darin enthaltenen Worte verkörpern die monate-, wenn nicht jahrelange Einsamkeit eines Menschen, so dass man von jedem Wort, das man in einem Buch liest, sagen könnte, es konfrontiere einen mit einem Partikel dieser Einsamkeit. Ein Mann sitzt allein in einem Zimmer und schreibt. Ganz gleich, ob das Buch von Einsamkeit oder Kameradschaft erzählt, es ist notwendig ein Produkt der Einsamkeit. Wenn A. sich in seinem Zimmer hinsetzt, um das Buch eines anderen zu übersetzen, ist es, als dringe er in die Einsamkeit dieses anderen ein und mache sie zu seiner eigenen. Aber das ist doch gar nicht möglich. Denn sobald eine Einsamkeit durchbrochen ist, sobald sie von jemand anderem mitgetragen wird, ist es keine Einsamkeit mehr, sondern eine Art Kameradschaft. Obwohl nur der eine Mensch im Zimmer ist, sind es im Grunde zwei. A. stellt sich vor, so etwas wie der Geist dieses anderen zu sein, der da ist und doch nicht da und dessen Buch dasselbe und doch nicht dasselbe ist wie das, das er übersetzt. Demnach ist es möglich, sagt er sich, im gleichen Augenblick allein und nicht allein zu sein.
    Ein Wort wird zu einem anderen Wort, ein Ding zu einem anderen Ding. Und somit funktioniert das, sagt er sich, auf die gleiche Weise wie das Gedächtnis. Er stellt sich in seinem Innern ein unermessliches Babel vor. Da ist ein Text, und der übersetzt sich selbst in eine unendliche Anzahl von Sprachen. Sätze strömen gedankenschnell aus ihm hervor, und jedes Wort kommt aus einer anderen Sprache – tausend Zungen, die alle zugleich in ihm lärmen, und ihr Echo hallt durch ein Labyrinth von Zimmern, Fluren und Treppenhäusern, Hunderte von Stockwerken hoch. Er wiederholt. Im Raum der Erinnerung ist alles gleichermaßen es selbst und etwas anderes. Und dann dämmert ihm, dass alles, was er im Buch der Erinnerung aufzuzeichnen versucht, alles, was er bisher geschrieben hat, nichts anderes ist als eine Übersetzung einiger Augenblicke seines Lebens – jener Augenblicke, die er am Heiligabend 1979 in seinem Zimmer in der Varick Street 6 durchlebt hat.

    Der Augenblick der Erleuchtung, die über den Himmel der Einsamkeit lodert.
    Pascal am Abend des 23. November 1654 in seinem Zimmer, wie er das Memorial ins Futter seines Kleides einnäht, um den Bericht von jener Ekstase für den Rest seines Lebens jederzeit unter seinen Händen fühlen zu können.
Im Jahr der Gnade 1654
Am Montag, dem

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