Die Erfindung des Abschieds /
Der Kollege Süden hat ihn so weit gebracht zu gestehen, und das bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, und …«
»Ja«, unterbrach ihn Rossbaum, »aber es hat einfach zu lang gedauert. Der Junge ist weg, und das ist auch eine Tatsache.«
»Einen Moment!« Jetzt war Hauptkommissar Volker Thon an der Reihe. Er nestelte an seinem Seidenhalstuch und streckte den Kopf in die Höhe, damit er den Blick auf Rossbaum frei hatte. »Ich wäre Ihnen dankbar, Kollege Rossbaum, wenn Sie sich vor der nächsten Sitzung besser informieren würden. Tatsache ist nämlich, dass die Nachbarin von Herrn Oberfellner eine Stunde gebraucht hat, bis sie sich entschlossen hatte, uns anzurufen. Obwohl sie den Jungen nach eigener Aussage erkannt hat! Diese Frau, Oda Hottrop, hat eine ganze Stunde verstreichen lassen, bevor sie sich bequemt hat, uns zu sagen, dass sich Raphael in ihrem Haus aufhält. Als die Kollegen hinkamen, war er schon weg. Stattdessen war die Presse da, dank der aufmerksamen Frau Hottrop. Das war Pech für uns, Kollege Rossbaum, und auch wenn ich weitgehend Ihrer Meinung bin, was den Kollegen Süden betrifft, so dürfen wir diese Fakten bei der ganzen Angelegenheit dennoch nicht außer Acht lassen. Ich hoffe, Sie verstehen, wie ich das meine.«
»Ja«, sagte Rossbaum und stand wieder auf. »Aber meine Meinung ist auch, und die lass ich mir nicht verbieten, dass jemand, der die ganze Zeit nur zuhört, hier nichts verloren hat. So ein Zuhörer bringt nichts, den labern die Leute voll und lachen sich eins. Wenn einer Zuhörer werden will, dann soll er Pfarrer werden oder Psychiater, aber nicht Polizist.« Er setzte sich und gab sich alle Mühe, nicht nach schräg vorne zu schauen, wo Tabor Süden saß.
Für den Großteil der Soko-Mitglieder war Funkels Hinweis darauf, dass ausgerechnet Tabor Süden den Verdächtigen Anz zum Sprechen gebracht hatte, nichts weiter als ein psychologischer Trick, um die Stimmung zu entgiften. Früher oder später hätte jeder von ihnen diesen Anz überführt, dazu hätte Funkel seinen Freund nicht extra aus dem Wald zurückzuholen brauchen.
Hinten an der Wand klickte ein Feuerzeug. Als hätten die Raucher auf dieses Signal gewartet, griffen sie gleichzeitig nach ihren Zigaretten und zündeten sie an. Flaschen klirrten, und das Gemurmel wurde lauter.
»Gut«, sagte Funkel, »ich bitte Sie jetzt zu gehen und dann einzeln in mein Büro zu kommen, für ein kurzes Gespräch unter vier Augen, na ja, sagen wir: unter drei Augen.«
Nicht einmal aus Höflichkeit wurde diese Bemerkung mit einem freundlichen Lächeln quittiert.
Wie eine Troika von Verschwörern standen sie im Flur und sprachen leise miteinander. Kollegen, die an ihnen vorbei mussten, hielten kurz inne, murmelten einen Gruß und gingen langsamer weiter.
»Du hättst was sagen sollen«, meinte Paul Weber, dem der Schweiß auf der Stirn stand; sein rotweiß kariertes Hemd hing ihm aus der Hose, und er wirkte angespannt, leicht aggressiv.
»Find ich auch«, sagte Sonja Feyerabend, deren kurzes Haar heute besonders gelb leuchtete, wodurch der braune Scheitelzickzack noch stärker hervortrat. »Wenn du weiter deinen Mund hältst, wird der Druck auf Charly immer größer, und dann schickt er dich nach Hause, das garantier ich dir. Ich war überrascht, wie er dich vorhin verteidigt hat.«
Der bullige Weber wischte sich mit einem weißblauen Taschentuch, das auseinander gefaltet die Größe eines halben Tischtuchs hatte, die Stirn ab, knüllte es zusammen und steckte es in seine Lederhose. Vermutlich war er der einzige Mann in München, der in Bayern geboren war, sich kleidete wie ein Urbayer, aber keinen Dialekt sprach.
»Die Sonja hat Recht«, sagte er, »du musst irgendwie in die Offensive gehen, sonst hebeln die dich aus, ich find das zum Kotzen, aber die Jungs sind so aufgeladen, wie ich sie noch nie erlebt habe, die plappern einfach nach, was in den Zeitungen steht. Und da steht, dass du schon wieder einen Fall vermasselt hast, kaum dass du zurück im Dienst bist. Sogar die, die dich früher als den
Seher
in den Himmel gelobt haben, wollen dich jetzt abschießen.«
»Vielleicht hab ich den Fall vermasselt«, sagte Tabor Süden. Er hatte Ringe unter den Augen und vergessen, sich zu rasieren, nachdem er die eine Hälfte der Nacht gemeinsam mit Sonja, Weber, Thon, Funkel und zwei weiteren Kollegen Frank Oberfellner vernommen hatte; die andere Hälfte der Nacht war er zuerst in seinem Zimmer und dann im Innenhof des Wohnblocks
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