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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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noch in Situationen, in denen er sich fühlte wie ein Pennäler, wie ein dämlicher Feigling auf dem Schulhof, der beim Zigarettenrauchen erwischt wurde.
    »Und sonst?«
    »Danke«, sagte Oberfellner, warf Raphael, der mit offenem Mund an der Wand lehnte, einen Blick zu und erholte sich langsam. »Grüß Gott, Frau Hottrop, lang nicht gesehen, waren Sie verreist?«
    »Nein. Sie?«, fragte Oda Hottrop, die endlich ihre riesigen Arme senkte.
    »Ich? Nein. Komm Raff, du hast noch was vergessen. Komm, komm schon!«
    Raphael nickte, tastete sich an der Wand entlang und verschwand hinter Oberfellner in der Wohnung.
    »Kenn ich den Jungen?«, fragte Frau Hottrop.
    »Das ist der Sohn eines Arbeitskollegen, ich pass auf ihn auf, ausnahmsweise …«
    »Können Sie überhaupt mit Kindern umgehen?«
    »Ich versuch’s«, sagte er, hob die Hand und schob langsam die Tür zu. »Wiedersehen, Frau Hottrop.«
    »Den Jungen hab ich schon mal gesehen, Sie machen mir nichts vor, Herr Oberfellner!«
    Er schloss die Tür und stöhnte. Mit schweren Schritten trottete Oda die Treppe hinauf.
    »Die ist gefährlich«, sagte Raphael und schnallte sich den Rucksack auf den Rücken.
    »Ach was, die ist blöd, die war früher Opernsängerin, aber keine wichtige, jetzt macht sie sich dafür umso wichtiger.«
    »Die ist gefährlich.«
    »Hat sie dich erschreckt?«
    »Nein! Ich muss jetzt gehen.«
    »Du kannst doch nicht gehen. Außerdem kommt Gustl bald wieder, was meinst du, was der sagt, wenn du nicht da bist. Der kümmert sich doch um dich, das hat er dir doch versprochen. Und ich kümmer mich auch um dich.«
    »Tust du nicht!«
    »Doch. Jetzt zieh deine Schuhe aus und nimm den Rucksack ab, und dann spielen wir ›Mensch ärgere dich nicht‹.«
    »Will nicht spielen. Ich muss jetzt gehen.«
    »Bitte, Raff!«
    »Du darfst nicht Raff zu mir sagen, das darfst du nicht.«
    »Entschuldige. Willst du nicht auf Gustl warten? Der ist doch dein Freund.«
    »Wieso ist der noch nicht da? Du hast gesagt, er kommt am Vormittag …«
    »Ja …«
    »Und dann hast du gesagt, er kommt Mittag, und jetzt ist Nachmittag, und er ist immer noch nicht da. Du lügst! Du bist ein Lügner!«
    Er nahm Anlauf und rannte mit voller Wucht gegen Oberfellners Beine. Aber er kam nicht vorbei.
    »Der Gustl ist bei der Polizei, und er muss vorsichtig sein, die fragen ihn doch nach dir aus. Und er will dich nicht verraten, deswegen dauert es solange, weil er sich jedes Wort genau überlegen muss.«
    »Du lügst!«
    »Nein, Raphael. Der Gustl ist dein Freund, und ich bin auch dein Freund.«
    »Bist du nicht!«
    »Doch, bin ich. Gib mir deinen Rucksack! Willst du was essen?«
    Raphael schüttelte den Kopf.
    »Was trinken?«
    Raphael schüttelte den Kopf.
    »Fernsehen?«
    Raphael nickte.
    »Gut, dann geh ins Wohnzimmer und schalt den Apparat ein! Ich muss mal schnell auf die Toilette, sonst zerreißt’s mich. Und denk nicht mehr an die komische Frau!« Unsicher tätschelte er dem Jungen den Hinterkopf und gab ihm einen Schubs. Dann huschte er ins Bad und schloss die Tür ab. Raphael blieb vor ihr stehen und kratzte sich an der Hand, wie seine Mutter.
     
    Am Rand des Schweigens war es ungemütlich. Vom Flur aus, in dem es dunkel und kühl war, sah sie ihren Kollegen an, der am Tisch saß und sein Gegenüber nicht aus den Augen ließ. Anz schien weiter fasziniert von den Ereignissen an der Decke. Ungeduldig klopfte Sonja mit dem Kugelschreiber auf ihren Block. Rossbaum und Gobert saßen drüben am Fenster und kamen sich verarscht vor.
    Es war der dritte September, Montagnachmittag, fünfzehn Uhr achtundvierzig.
    »Wie lang ist der Junge jetzt verschwunden?«, fragte Anz die Decke.
    »Seit elf Tagen«, sagte Süden.
    »Lange Zeit.«
    »Kennen Sie seine Mutter?«
    »Nein.«
    »Aber ich.« Er konnte Sonjas Ungeduld spüren, trotzdem würde er weiterhin nichts anderes tun als dasitzen und warten.
    Schlagartig riss sich August Emanuel Anz vom Anblick der Küchendecke los.
    »Haben Sie Kinder?«, fragte er den Kommissar.
    »Nein.«
    »Ich hab einen Engel. Wir wollten es nicht, die Frau nicht, und ich auch nicht. Engel können wenigstens nicht weglaufen.«
    »Nicht mal wegfliegen«, sagte Süden.
    Anz nickte. Dann stand er auf, strich sich die Hose glatt, drehte den Kopf, sah Sonja im Flur stehen und kniff die Augen zusammen. Er ging zum Telefon, das auf einem Schemel hinter Sonja stand, nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer.
    Süden stellte sich neben ihn und berührte dabei

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