Die Erfindung des Abschieds /
hin und her gelaufen, ohne müde zu werden.
»Sie sollen zu Herrn Funkel kommen!«, sagte Oberkommissar Florian Nolte, der mit Freya bei der Tochter des Schauspielers Sebastian Heus gewesen war, zu Sonja.
Funkel war klar, dass weder Sonja noch Weber gegenüber Journalisten abfällige Bemerkungen über Tabor Süden gemacht hatten, es ging ums Prinzip – es ging darum, zu zeigen, dass er seine Mitarbeiter, zumindest in Situationen, bei denen es um Ehre und Solidarität ging, gleich behandelte. Ehre und Solidarität … Als Sonja in sein Büro kam, fragte er sich, ob er sich nicht die ganze Zeit etwas einredete und seine Kollegen im Grunde nicht etwas ganz anderes bezweckten als die Demontage eines eigensinnigen Hauptkommissars – nämlich die seine als Dezernatsleiter. Seit dem Fall Lucia Simon geriet er nicht nur aus dem Innenministerium immer wieder unter Beschuss wegen seines angeblich zu laxen Führungsstils und seiner engen persönlichen Beziehungen zu Sonja Feyerabend und Tabor Süden, was eine Gleichbehandlung aller Kollegen von Natur aus unmöglich mache. An diese Vorwürfe hatte er sich gewöhnt, so war eben sein Job, dachte er. Je höher man in der Hierarchie aufstieg, desto geringer wurde die Zahl derjenigen, denen man vertrauen konnte; so war es überall, wo es um Effizienz und Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit ging, wieso sollte es bei der Polizei anders sein? Heilige gab es nicht einmal in der Kirche, der er angehörte, ihm genügten die Scheinheiligen.
»Setz dich!«, sagte er, aber Sonja blieb stehen.
»Darf ich das Fenster aufmachen, hier riecht’s nicht gut«, sagte sie und machte es auf.
»Stört’s dich, wenn ich eine Pfeife rauche?«
»Ja und nein.«
»Danke«, sagte er und begann, Tabak in den Pfeifenkopf zu stopfen.
In der Toilette am Ende des Flurs stand Tabor Süden neben der Tür und sah die weiße Wand an. Er stand direkt davor, sein Blick krabbelte über winzige Höcker und Farbkleckse, die sonst niemandem auffielen, und sein Atem floss durch ihn hindurch wie ein ruhiger Bach. So ertrug er die Nähe der Wand, und je länger er es aushielt, desto stärker wurde er, entschlossener, nicht aufzugeben. Es war eine Übung, die ihn niemand gelehrt hatte, er hatte sie eines Tages erfunden, als er dreizehn oder vierzehn und seine Mutter noch am Leben und sein Vater in Amerika war. Eines Abends, als er allein in seinem Zimmer saß und das Licht langsam verschwand, sah er, wie die Wände näher kamen, und er duckte sich, und sie kamen immer näher, und er hatte Angst zu ersticken oder zerquetscht zu werden. Da stieß er einen lauten Schrei aus, lauter als je zuvor, streckte sich und stellte sich stämmig vor die Wand und schaute sie an, schaute in ihr weißes, unnahbares Antlitz und trotzte ihrem Schweigen und ihrer Kälte. Minuten vergingen, und er überlebte; zehn Minuten, dreißig Minuten, eine Stunde, und je länger er hinschaute, umso mehr verschwand seine Furcht, und die weiße Leere verwandelte sich in eine Landschaft aus Hügeln, Wegen, Flussläufen, Wäldern, in denen Tiere lebten. Es war, als habe er die Mauer eingerissen und blickte ins Freie und sei frei zu gehen; und das war er auch. Von diesem Tag an gelang es ihm immer wieder, ganz für sich zu bleiben und sich nicht vor den Dingen zu fürchten, den Stimmen draußen und dem Scharren unterm Bett und hinterm Schrank; auf der Straße betrachtete er die Häuser und dahinter die Landschaft mit anderen Augen, und das beruhigte ihn und machte ihm Mut. Später, nachdem seine Mutter gestorben war, rettete er sich so über die Nacht ihres Abschieds.
Die Tür knallte gegen die Wand, schlug zurück und wurde von einer Hand erneut gegen die Wand gedrückt.
»Sorry, Kollege, wollt Sie nicht erschrecken!«, rief Lars Rossbaum, der polternd in die Toilette kam. Im Gehen zog er den Reißverschluss seiner Hose auf und stellte sich ans Urinal. Süden legte den Kopf in den Nacken, stemmte die Hände gegen die kalte Wand, drückte die Arme durch und schloss die Augen.
»War nicht persönlich gemeint, Kollege!« Rossbaums Stimme hallte in der gefliesten Toilette. »Ehrlich! Nichts gegen Sie, ich kenn Sie kaum. Die Sache mit dieser Lucia geht mich nichts an, ehrlich. Ich hab mich nur gewundert, wie Sie mit dem Typen geredet haben, mit dem Anz, ich mein, der hat Sie doch zum Narren gehalten, oder nicht? Mir ist das so vorgekommen. Und das war auch so.«
Rossbaum kam zurück und schaute in den Spiegel, stippte mit dem Finger
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