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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Sonjas Hand, so wie Funkel es manchmal in seinem Büro tat. Sie hatte nichts dagegen.
    »Ich bin’s«, sagte Anz. »Alles klar? … Sag das noch mal! … Du bist der dämlichste Depp von ganz Deutschland!«
    Er legte auf und verschränkte die Arme. »Der Junge ist weg! Weggelaufen, als mein Kollege auf dem Klo war. Seine Nachbarin hat die Polizei geholt, die hat den Jungen nämlich gesehen, die alte Schreckschraube. Und die Presse ist auch schon da.«
    »Ihr Kollege Frank Oberfellner?«, fragte Sonja und zog ihr Handy aus der Jackentasche.
    Anz ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, schaute sich um, als suche er etwas, beachtete die beiden jungen Polizisten nicht, die aufstanden und ihm unbeholfen den Weg versperrten. Aber er kehrte um, knipste das Licht im Flur an und bückte sich, um seine Strickjacke aufzuheben, die runtergefallen war; er zog sie an, und Sonja beendete das Telefongespräch mit ihren Kollegen, die sich in Oberfellners Wohnung aufhielten.
    »Haben Sie eine Vorstellung davon, wo der Junge hingelaufen sein könnte?«, fragte sie Anz. Er wich ihrem Blick aus. »Sie und Ihr Kollege! Zwei armselige Kidnapper! Sie haben es geschafft, Herr Anz! Der Aufstieg vom Kleinkriminellen zum Verbrecher ist Ihnen gelungen!«
    »Der Bub ist freiwillig mitgekommen, freiwillig, fragen S’ ihn doch!«
     
    »Ja, das stimmt genau, so war das. Freiwillig war der hier, der hat gesagt, wir sollen ihm helfen, und das haben wir getan, weil so einem Kind, das von den Eltern misshandelt wird, dem muss man helfen, ganz genau«, sagte Frank Oberfellner, nachdem sich Tabor Süden durch den Pulk der redenden, wühlenden und fotografierenden Polizisten, die in der Zwischenzeit die enge Wohnung in der Alramstraße belagerten, zu ihm vorgearbeitet hatte.
    Vor dem Haus trafen immer neue Gruppen von Reportern ein, Nachbarn wurden interviewt und Streifenpolizisten zu Erklärungen gezwungen. Einem Journalisten gelang es, ein Foto jenes Mannes aufzutreiben, der angeblich den kleinen Raphael entführt und in seine Gewalt gebracht hatte.
    Wenige Stunden später kannte die ganze Stadt das Gesicht von Frank Oberfellner, dem pädophilen Friedhofsgärtner.

11
    Rückkehr ins Fegefeuer
    E lf Tage hatten genügt, das Dezernat 11 in ein Tollhaus zu verwandeln, in einen Ort, an dem die Vernunft abhanden gekommen und ersetzt worden war durch Gefühlsausbrüche, die offenbar niemand mehr unter Kontrolle brachte. Auf den Fluren des fünfstöckigen Gebäudes hackten Polizeibeamte, die mit dem Fall nur am Rande betraut waren, mit erhobenen Zeigefingern aufeinander ein, schrien sich an und beschimpften sich gegenseitig – oder andere Kollegen – als Versager und Feiglinge; ihrer Meinung nach wäre es nie so weit gekommen, wenn ein paar Beamte ihren Chef rechtzeitig gewarnt und ihn daran gehindert hätten, einen Kollegen in die Sache mit einzubeziehen, der nach allem, was man gehört hatte, psychisch krank und sogar rauschgiftsüchtig war. Außerdem lasse sich jeder im Haus, besonders in der Führungsriege, von der Presse auf der Nase herumtanzen, mit der Folge, dass jetzt die gesamte Abteilung wie ein Haufen Lackaffen dastehe und sich bis auf die Knochen blamiert habe.
    Unabhängig davon, wie man im Dezernat die Macht der Presse und die Ohnmacht der Abteilungsleiter einschätzte, gab es keinen Zweifel daran, wer der Hauptschuldige an der verpatzten Sache mit dem verschwundenen Raphael Vogel war: Hauptkommissar Tabor Süden. Um ihn rankten sich alle Gerüchte, und unten im Parterre, im türkischen Lokal, wo die Polizisten ihren Imbiss einnahmen, tuschelten einige hinter vorgehaltener Hand, der Kollege Süden habe selbst eine Vorliebe für kleine Kinder und würde sich nicht genieren, nackt vor ihnen zu tanzen.
    Die Tatsache, dass er es geschafft hatte, August Anz dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen, fiel nicht ins Gewicht; in den Augen der meisten seiner Kollegen hatte Süden für das Geständnis durch seine berüchtigte abschweifende Fragerei viel zu lange gebraucht und damit die erneute Flucht des Jungen überhaupt erst ermöglicht.
    Für die Schlagzeile
Wahnsinn! Vor den Augen der Polizei: Kind 2. Mal weg!
, machten die meisten Kommissare Tabor Süden verantwortlich. »Manchmal denk ich, auf dem lastet ein Fluch«, wurde ein Mitglied der Sonderkommission in der Zeitung zitiert, »das ist wie damals bei der Lucia Simon, vielleicht hätten wir sie noch rechtzeitig gefunden, wenn Tabor Süden nicht dabei gewesen wär.«
    Wer das gesagt habe, wollte

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