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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Energieverschwendung. Sie sollten ihre Kraft und ihr Engagement besser zum Erreichen des gemeinsamen Zieles einsetzen, wegen dem sie hier saßen und sich die Nächte um die Ohren schlugen.
    Sollte er sagen, dass er sich im Ton vergriffen habe, wie er das manchmal seinen Kindern gegenüber tat, wenn sie ihn wieder einmal so nervten, dass ihm keine Wahl blieb, als sie anzubrüllen und zu beschimpfen? Ein Rückzug kam nicht in Frage.
    Tabor Süden handelte durch und durch kontraproduktiv, und Thon empfand es als seine Pflicht, seine Abteilung vor dem negativen Einfluss dieses Egozentrikers zu schützen.
    Er rieb sich die Hände, als habe er sie gerade eingecremt, und machte ein entspanntes Gesicht. »Alles, was uns hilft, den Jungen zu finden und das Verbrechen an Frank Oberfellner aufzuklären, ist wichtig.« Er blickte in die Runde, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass die Regungslosigkeit, mit denen die Kollegen auf seine Worte reagierten, ihn irritierte, seltsam verunsicherte. »Würden Sie mir bitte endlich sagen, was Tabor Süden mit dem Anruf bei Ihrer Geliebten bezweckt hat?«
    So genau hatte Paul Weber noch gar nicht darüber nachgedacht, aber Thon hatte Recht: Evelin Sorge war seine Geliebte. Er dachte fest an sie, während er weiterredete. »Mehr ist nicht, Herr Thon. Sie haben wohl, wie gesagt, über die Lüneburger Heide geredet und auch über Helgoland, glaub ich …«
    »Über Helgoland?«
    »Meine … Frau Sorge war doch als Kind mit ihrer Mutter oft auf dieser Insel, wegen ihrer Allergie, auf Helgoland gibt’s keine Pollen …«
    »Das ist mir bekannt«, sagte Thon, »ich bin in Hamburg geboren, ich war schon mal auf Helgoland.«
    »Entschuldigung«, sagte Weber.
    »Und das war alles?«
    »Ja.«
    »Waren Sie bei dem Gespräch dabei?«
    »Bei dem Telefongespräch? Nein. Ich war – ich war im Badezimmer.«
    »Und Sie haben nicht persönlich mit Süden gesprochen?«
    »Nein«, sagte Weber. Er log aus Zuneigung zu seiner Geliebten. Und aus Freundschaft zu Tabor Süden. Und aus Trotz.
     
    »Sie haben Glück, ein Zimmer hab ich noch frei«, sagte die alte Dame, die die
Pension Rosa
im Hamburger Stadtteil St. Georg betrieb.
    »Ich bleib nur eine Nacht«, sagte Tabor Süden.
    »Das ist schon recht. Schreiben Sie bitte hier Ihren Namen und Ihre Adresse auf.«
    Vor einer halben Stunde war er mit dem Intercity-Express in Hamburg angekommen, und vor morgen früh gab es keine Möglichkeit, nach Helgoland zu gelangen. Die »Wappen von Hamburg« fuhr nur einmal am Tag, um zehn Uhr dreißig von Cuxhaven aus, die Anlegestellen der übrigen Fähren lagen noch weiter entfernt. Allerdings verkehrte zwischen dem Festland und der Insel direkt vom Hamburger Hafen aus ein Katamaran, der nur halb so lang brauchte wie die anderen Schiffe.
    Süden kaufte sich eine Karte für den Katamaran und lief unruhig über den Pier. Sechzehn Stunden war er zur Untätigkeit verdammt, und das nur deshalb, weil er sich nicht traute, in ein Flugzeug zu steigen. Als Kind war er zweimal geflogen, als seine Eltern ihn mit nach Amerika nahmen, und danach nie wieder; Sonja hatte ihn immer wieder überreden wollen, doch alle Versuche, wenigstens einmal eine Kurzstrecke im Inland zu fliegen, scheiterten an seiner Panik, für die er keine Erklärung hatte. Die Flüge nach Amerika waren damals reibungslos verlaufen, er konnte sich nicht erinnern, dass ihm schlecht geworden wäre oder er plötzlich in der Luft Angst bekommen hätte. Trotz Sonjas unermüdlichen ironischen Bemerkungen, wie ein so starker, imposanter Mann bloß so feige sein könne, hatte er sich damit abgefunden und seine wenigen Reisen mit dem Zug unternommen.
    Der Flug von Cuxhaven-Nordholz zu der Düne vor Helgoland dauerte zwanzig Minuten. Und er könnte noch heute starten.
    Es war unmöglich. Die Vorstellung, in einer dieser niedrigen, rumorenden Propellermaschinen zu stecken, zusammengepfercht mit acht weiteren Passagieren, erschreckte ihn so sehr, dass er anfing, seinen Schritt zu beschleunigen und in einen Trab zu wechseln, der ihn bis ans Ende des Piers führte und wieder zurück und anschließend die Landungsbrücke hinauf und weiter am Zollkanal entlang über den Deichtorplatz bis zum Hauptbahnhof.
    Außer Atem und befreit von allen Gedanken an den Aufenthalt in einer fliegenden Streichholzschachtel erreichte er den Vorplatz und beschloss, eine Kleinigkeit zu essen und sich dabei zu überlegen, was genau er sagen würde, wenn er hernach zum Telefonhörer

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