Die Erfindung des Abschieds /
verstanden?«
»Wenn du mich anschreist, dann sieh mir ins Gesicht!«, sagte sie, schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und trank einen Schluck.
Thon kam um den Tisch herum, zwängte sich an seinen Kollegen vorbei, die eng nebeneinander saßen, und stellte sich vor die Wand. »Wenn ich den Kollegen Weber nicht zufällig auf dem Parkplatz getroffen hätte, dann hätte ich wahrscheinlich überhaupt nichts davon erfahren. Tabor Süden ist suspendiert!« Seine Stimme wurde lauter und schneidender. »Er hat hier nichts mehr verloren, und wenn du meinst …« Er zeigte auf Sonja. »… Wenn du meinst, du kannst mit ihm ein Spiel hinter meinem Rücken treiben, dann hast du dich geschnitten, Kollegin! Das ist hier doch kein Internat für höher gestellte, verwöhnte Töchter, die den ganzen Tag nur Unsinn im Kopf haben …«
Interessantes Beispiel, dachte Sonja, auf dem Gebiet kennst du dich anscheinend aus, mit den höher gestellten Töchtern.
»Und das Gleiche gilt für Sie, Kollege Weber! Haben Sie das verstanden?«
»Ich hab das verstanden, Herr Thon, ich …«
»Woher wissen Sie überhaupt davon, dass Süden diese Evelin Sorge angerufen hat? Waren Sie dabei?«
»Ja«, sagte Weber, und sein Gesicht war ein roter Planet.
»Wie bitte?«
»Ich bin dafür, du setzt dich hin«, sagte Sonja. »Sind wir hier in der Schule?«
»Willst du mir vorschreiben, wie ich mich in meiner eigenen Abteilung zu verhalten habe?«
Sie sahen sich an. Sonjas Verlangen, aufzuspringen und ihn an Stelle von Süden so lange zu ohrfeigen, bis er ohnmächtig wurde, brachte sie nur dadurch halbwegs unter Kontrolle, dass sie darauf verzichtete, sich noch einmal ein Glas Wasser einzugießen; stattdessen trank sie gleich aus der Flasche und setzte diese erst ab, als sie leer war.
»Ich weiß nur so viel …« sagte Weber und verstummte, da Thon unvermindert Sonja anstarrte und sie dem Duell nicht auswich. »Entschuldigung …«
»Ich höre Ihnen zu«, sagte Thon und ließ Sonja nicht aus den Augen. Dann wandte er sich ab, und sie nickte abschätzig. Noch eine einzige dumme Bemerkung, und sie würde aufstehen und rausgehen. Ich könnte dich umbringen, Tabor Süden!
»Also«, sagte Weber, und sein rotweiß kariertes Hemd hatte Schweißflecken, »also, es ist so, dass Frau Sorge und ich uns – uns angefreundet haben …«
»Sie haben ein Verhältnis mit ihr?«, donnerte Thon.
»Das auch.«
Für die jüngeren Kollegen im Raum, unter ihnen Rossbaum und Gobert, war dies endlich mal eine Neuigkeit, die sie noch nicht kannten. Freya Epp fiel sofort eine Episode aus der Fernsehserie
NYPD Blue
ein, in der sich ein Cop in eine Zeugin verliebt hatte; ihr war das noch nie passiert.
»Es ist mir egal, ob Sie ein Verhältnis mit dieser Frau haben«, sagte Thon und zupfte an seinem Seidentuch. Aus ihrer inneren Pumpgun feuerte Sonja eine volle Ladung auf ihren Chef ab. »Sie waren also bei ihr, als Süden angerufen hat. Was wollte er? Und ich will es genau wissen. Jedes Wort, haarklein. Also?«
»So viel ich mitgekriegt hab, wollte er nur Dinge wissen, die sie, Frau Sorge, uns schon erzählt hat, wie sie Georg Vogel kennen gelernt hat, wie sie ihn zu sich nach Hause einladen wollte, also da nach … in die Lüneburger Heide …«
»Warum, verdammt nochmal, wollte er das wissen? Das steht doch in den Unterlagen, die er gelesen hat. Versuchen Sie nicht, mir was zu verschweigen, Kollege Weber! Ich weiß, dass Süden in dieser Abteilung so eine Art Heiliger ist, der von allen …«
»Haben wir eigentlich nichts Wichtigeres zu tun?«, fragte Sonja.
Wenn je eine Stille knisterte, dann jetzt.
Etwas geschah mit Volker Thon, das unerklärlich für ihn war. Zum ersten Mal empfand er bei der Ausübung seines Berufs eine Leere, die ihn augenblicklich lähmte; zum ersten Mal in all den Jahren, die er in diesem Dezernat verbracht hatte, wünschte er sich, weniger Verantwortung zu haben und nur ein einfacher Kommissar zu sein, der sich an die Machtlosigkeit ebenso gewöhnt hatte wie an seine Überstunden; der zwar kein intaktes Familienleben hatte, aber dafür eine Hand voll Kumpels, die in derselben Situation waren wie er und mit denen er regelmäßig seinen Frust runterspülen konnte. Was Volker Thon in diesem Moment bewusst wurde, war sein elementares Bedürfnis nach Harmonie und dem Gleichklang der Gesinnung; lautstarke Dispute wie eben erschienen ihm, wenn er genau darüber nachdachte, und das tat er nun in Sekundenschnelle, wie pure
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