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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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und die ganze Stadt schien sich darüber das Maul zu zerreißen.
    Funkel hatte es satt, dass er jeden Tag den Staatssekretär oder sogar den Minister am Telefon hatte, der ihn fragte, wann denn endlich mit vorzeigbaren Erfolgen zu rechnen sei.
    Das Telefon klingelte, und Funkel nahm den Hörer ab.
    »Ja? Guten Tag, nett, dass Sie so prompt zurückrufen …« Er hörte zu und legte dann auf. »Das war die Reederei in Cuxhaven, ohne Ergebnis. Sie haben niemand aufgetrieben, der unser Paar gesehen hat, es sind zur Zeit trotz des schlechten Wetters zu viele Fahrgäste unterwegs, sie können nicht jeden unter die Lupe nehmen. Ist ja auch verständlich.«
    »Das ist Mist!«, sagte Thon. »Wie viele Anlegestellen fehlen jetzt noch?«
    Funkel sah auf die Liste, die in der Mitte mit einem Längsstrich unterteilt war; auf der einen Hälfte standen elf, auf der anderen fünfzehn Namen von Orten, einige davon waren bereits durchgestrichen.
    »Sieben fehlen noch. Bei den Schiffsverbindungen Sylt, Amrum, Husum und Büsum und bei den Flugplätzen St. Michaelisdonn, Wangerooge und Büsum. Die haben unser Fax noch nicht beantwortet.«
    »Ich glaub sowieso nicht, dass die geflogen sind«, sagte Sonja Feyerabend.
    »Warum nicht?«, fragte Thon. Er hatte sein Seidentuch abgelegt und den Hemdkragen geöffnet; er schwitzte, was bei ihm selten vorkam.
    »Zu teuer«, sagte Sonja. Es war zum Verrücktwerden: Sie hatte keine Möglichkeit, Süden zu erreichen, und von sich aus würde er bestimmt nicht anrufen, sie hatte es ihm verboten. War sie denn von allen guten Geistern verlassen gewesen?
    »Ja, was jetzt?«, fragte Thon, stand auf und blickte genervt auf Sonja hinunter.
    »Wir müssen warten«, sagte sie.
    »Dazu hab ich keine Lust!«, sagte er laut.
    »Wann wird Tabor auf der Insel sein?«, fragte Funkel.
    »Nicht vor morgen Mittag«, sagte Sonja.
    »Wieso nicht früher?«, fragte Thon gereizt.
    »Weil er mit der Fähre fahren muss, und heute geht keine mehr, das hast du doch gehört!«
    »Aber er könnte ein Flugzeug nehmen«, sagte Funkel.
    »Tabor hat Flugangst«, sagte Sonja.
    Thon lachte laut auf, nickte und knetete die Hände.
    »Er ist noch nie in ein Flugzeug gestiegen?«, sagte Funkel. »Ist mir nicht aufgefallen.«
    »Wann denn auch?«, sagte Sonja.
    »Der Indianer hat Schiss vorm Fliegen«, sagte Thon und schüttelte den Kopf.
    »Sowie er auf der Insel ist, ruft er an, das weiß ich«, sagte Sonja.
    »Dein Wort in Gottes Ohr!«, sagte Funkel.
    »Wenn er nicht so viel Schiss hätte, wäre er längst dort«, sagte Thon.
     
    Möglicherweise war es ein grandioser Ausblick, möglicherweise waren die Robbenbänke eine Rarität und das Wasser ein Wunder in Blau. Möglicherweise. Er konnte es nicht sagen. Er schaute seine Schuhe an, schwarze saubere Schuhe, und der lindgrüne Teppichboden dazwischen war ordentlich sauber, frisch gesaugt. Möglicherweise genossen die übrigen Sardinen in der Dose das Spiel der Wolken und der Wellen tatsächlich so, wie sie munter kundtaten, er tat das nicht, er war eine stumme Sardine, die zu Boden blickte und die Hände faltete, weil er sonst nicht wusste, wohin mit ihnen. Jetzt wusste er also, wo der Cuxhavener Ortsteil Nordholz lag und wie der Sound von Propellern klang, wenn man praktisch direkt neben ihnen saß. Lauter wichtige neue Erfahrungen. Er schluckte, und jemand sagte etwas zu ihm, die dicke Sardine, die sich neben ihn gequetscht hatte und dauernd Witze erzählte, aber er antwortete nicht. »Entschuldigen Sie«, sagte die Sardine, ein Mann, der gekrümmt dasaß, mit einer modischen Brille und einem teuren Gebiss, »haben Sie Flugangst?« Süden nickte – er freute sich kurz, Nicken war also noch möglich. »Das kenn ich«, sagte die Sardine, »hatt ich auch, aber jetzt nicht mehr, ich setz mich rein, und ab geht die Post. Der Herrgott passt schon auf, oder auch nicht, runter kommen wir auf jeden Fall, alles klar?« Wieder probierte Süden das Nicken, und es klappte. Er richtete sich ein Stück auf, und beinah wäre ihm sein Blick entwischt; bevor dieser das Fenster erreichte, riss Süden den Kopf herum und kontrollierte erneut den Glanz seiner Schuhe. Alles in Ordnung da unten. »Wollen Sie einen Schluck?«, fragte die Sardine neben ihm. »Wir sind sowieso gleich da, schauen Sie mal, da unten, die Seehunde, wie die tauchen können!« Was sollten sie sonst tun, die Seehunde?, überlegte Süden, und die Frage beschäftigte ihn eine Weile. Seehunde … Was sehen Seehunde? Die See, so

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