Die Erfindung des Abschieds /
Kinderschrift. Sonja hielt das Blatt hoch, damit auch Heuer den Text lesen konnte.
Lieber Opa, ich hab dich lieb und ich vermiss dich, ich weiß nicht, wieso Gott das getan hat und wieso du gestorben bist. Meine Mama denkt, ich weiß nicht, was tot sein ist, aber ich weiß das genau, es ist, wenn jemand, den man lieb hat, nicht mehr da ist. Gott ist böse, und ich hasse ihn, wenn du ihn siehst, sag ihm, ich versteh ihn nicht. Ich geh nie wieder nach Hause zu meiner Mama und zu meinem Papa, die wissen nichts. Ich bin traurig, weil sie dich immer geschimpft haben, weil du mit Eisenbahnen spielst und mir unten am Fluss von den Elfen erzählt hast. Das war schön, und jetzt bin ich allein. Ich bin aber mutig und will dir nur sagen, dass du dir keine Sorgen machen musst. Ich kann schon selber leben. Niemand vermisst mich, außer du, aber ich vermiss dich ja auch, und wenn wir uns beide so vermissen, dann kann uns gar nichts passieren, oder? Vielleicht bist du ja auch gar nicht gestorben, und wenn ich ganz fest dran glaube, dann bist du auf einmal wieder da, ich wart schon auf dich, und dann gehen wir wieder zu den Elfen und schauen ihnen beim Tanzen zu, versprochen? Machs gut, Opa, schau, das bin ich, dein Raphael.
An den Rand hatte er eine runde Sonne mit einem traurigen Gesicht gemalt und an Stelle des Mundes eine Straßenbahn. Darunter war ein Pfeil, der auf einen bestimmten, nicht gekennzeichneten Punkt zeigte, und daneben stand:
Diese Elfe (unsichtbar) tanzt nur für dich!
Über Handy beorderte Heuer vier Streifenwagen zum Ostfriedhof.
Als er sich zu Sonja umdrehte, landete ein Regentropfen auf seiner Nase.
3
Hotel der hellen Träume
W ie gebannt schauten ihr alle zu. Seit drei Monaten war sie in der Vermisstenstelle, eine gewissenhafte, engagierte zweiunddreißigjährige Oberkommissarin, deren Berichte fehlerfrei, übersichtlich und gut geschrieben waren; die schnell einen Draht zu verstockten Menschen fand und als kenntnisreiche Ratgeberin in Sachen Krimiserien ein echter Gewinn für das Dezernat war. Doch wenn sie anfing, ihre Recherchen mündlich vorzutragen, nachdem es ihr in intensiver Suche gelungen war, ihre Papiere aus den Katakomben ihrer riesigen Tasche ans Licht zu befördern und sie einigermaßen logisch vor sich auszubreiten, herrschte jedes Mal atemloses Staunen.
Was Freya Epp zu berichten hatte, klang zunächst wie ein Auszug aus einem dadaistischen Manifest, abgebrochene Sätze, abgebrochene Worte, kryptische Zusammenhänge, abenteuerliche Parenthesen und ein Arsenal von Personen, die alle, zumindest nach Freyas ausufernder Darstellung, von immenser Wichtigkeit waren und vermutlich mit der verschwundenen Person in einem viel engeren Verhältnis standen, als sie es bisher zugegeben hatten. Wenn Freya von ihren zahlreichen, eng beschriebenen Blocks aufschaute und ihre braunen Kulleraugen hinter ihrer modischen Brille funkeln ließ, blickte sie in einen Kreis fasziniert schweigender Zuhörer, die unauffällig damit beschäftigt waren, das Chaos in ihren Köpfen zu ordnen und die Fassung zu bewahren. Was vor allem für Martin Heuer galt; Erklärungen, die über fünf Sätze hinausgingen, empfand er als blanke Zeitverschwendung.
»Diese Lehrerin«, fragte er und fuhr sich mit beiden Händen über den Schädel, was aussah, als würde er sich die Haare raufen, »die will wissen, dass Raphael einem Freund gesagt hat, sein Vater würde ihn schlagen, wenn er ihm nicht gehorcht. Ja?«
An der Sitzung nahmen außer Freya und Heuer der Leiter des Kommissariats, Volker Thon, sowie Sonja Feyerabend und Paul Weber teil, der mit Abstand der Älteste war. Der runde Tisch unter der breiten Fensterfront war übersät mit Zetteln, Schreibblocks, Kugelschreibern und Fotos, über denen ein zerknitterter Stadtplan lag; zwei Flaschen Mineralwasser, Gläser und ein dreieckiger Glasaschenbecher voller Büroklammern standen genau in der Mitte des Tisches. Die Tür zum Nebenraum, den sich Sonja und Heuer neuerdings mit Freya teilten, war angelehnt, und man hörte die Telefone klingeln und die Gespräche der Polizisten, die ununterbrochen Anrufe entgegennahmen oder Rundfunkredaktionen die Beschreibung des Jungen durchgaben.
»Nein«, sagte Freya Epp und wühlte in ihren Papieren. »Die Lehrerin, also die Leiterin der Grundschule, in die Raphael geht, die Leiterin, die hat das angeblich gehört, aber wie ich gesagt hab, das ist nicht seine Lehrerin, die Lehrerin, die kennt Raphael seit drei Jahren und weiß auch
Weitere Kostenlose Bücher