Die Erfindung des Abschieds /
in ihren Augen zu sehen, fern und flüchtig. »Hans Garbo, wie … wie die Schauspielerin«, ergänzte sie, und wieder war da dieses verlorene Lächeln um ihren Mund. »Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben, wenn Sie das möchten.«
»Das möcht ich.«
»Zwei, sieben …« sagte Kirsten.
»Zwei, sieben …« wiederholte Heuer, und sie drehte den Kopf so langsam, wie sie redete, zu ihm.
»Zwei, sieben, eins, fünf, null, vier, zwei.«
»Hat Ihr Freund das Geräusch auch bemerkt, haben Sie mit ihm darüber gesprochen?« Sonja hatte schneller als bisher gesprochen, sie hätte längst im Dezernat anrufen und Bericht erstatten müssen; zudem verringerte die Gegenwart von Thomas Vogel ihre mühevoll angesammelten Reserven an Philanthropie rapide.
»Ich weiß nicht … Er ist dann aufgestanden und ins Bad gegangen. Er ist Fahrer bei einer Speditionsfirma, er muss früh los, und er ist dann weggefahren …«
»Er weiß also gar nicht, dass Ihr Sohn verschwunden ist?«, fragte Heuer, der nicht die geringsten Anzeichen von Gereiztheit zeigte. Im Dezernat waren seine Geduld und Ausdauer bei Vernehmungen ebenso Gesprächsstoff wie sein unverwüstlicher Rollkragenpullover.
»Doch, das weiß er«, sagte Kirsten. »Ich hab ihn doch angerufen und ihm das gesagt, und er hat versprochen, dass er mir helfen wird Raphael zu suchen …«
»Da lach ich ja!«, fuhr Vogel dazwischen.
»Worüber lachen Sie da?«, fragte Sonja.
Nach dem Ende des Gesprächs, nach fast fünfzig Minuten, in denen die Kommissare schließlich auch den drei anderen Frauen einige Fragen gestellt hatten, nahm Sonja das kleine Bild, das Raphael und sein Opa im Automaten gemacht hatten, an sich und beschwor Kirsten und Thomas Vogel noch einmal, zu Hause zu bleiben und unter keinen Umständen wegzugehen; vielleicht kam der Junge von alleine zurück, oder er rief an. Alles Weitere sei im Moment Sache der Polizei.
»Tapfer, Punkmaus«, sagte Heuer, als sie draußen auf der St.-Martin-Straße standen und ein paar verbotene Augenblicke lang die Häuser betrachteten, als wären sie Touristen, die Zeit im Überfluss hatten. »Der Typ ist eine harte Nummer. Also, im Schnelldurchlauf: Hat er was mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun?«
»Unklar. Indirekt auf jeden Fall: Sein Sohn hat Angst vor ihm.«
»Hat die Mutter was mit dem Verschwinden des Jungen zu tun?«
»Unklar. Indirekt auf jeden Fall: Sie hört, wie die Haustür zufällt, um halb sechs in der Früh, und pennt einfach weiter.«
»Hat Ihr Freund was damit zu tun, dieser Garbo?«
»Nein.«
»Ist der Junge entführt worden?«
»Nein.«
»Ist er noch in der Stadt?«
»Eher ja als nein.«
Ein Auto hupte, und sie unterbrachen ihren Dialog, den sie auf ähnliche Weise schon hunderte von Malen geführt hatten. Neben ihnen hielt ein Streifenwagen, ein uniformierter Polizist beugte sich aus dem Fenster. »Hallo, Kollegen, wir sind gebeten worden, ein Auge auf den Friedhof zu werfen, wegen diesem Jungen, also, da war keiner, jedenfalls war da keiner, auf den die Beschreibung passt. Wir ziehen dann wieder ab.«
»Danke«, sagte Heuer. »Wart ihr allein?«
»Nein, die Kollegen sind aber grade zu einem Einsatz gerufen worden, die haben auch nichts gesehen. Der Junge war hier nicht, sorry.«
»Alles klar.«
Der Streifenwagen fuhr davon. Heuer zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.
»Ist dir kalt?«, fragte Sonja.
»Glaubst du, dass der Junge nicht zu der Beerdigung kommen wollte?«
»Nein.«
»Er hat sich also hergeschlichen, ohne dass wir ihn bemerkt haben.«
»Wahrscheinlich ist er von Pasing direkt hierher gefahren und hat sich irgendwo versteckt.«
»Gretchenfrage: Ist er jetzt am Grab?«
Sie machten sich auf den Weg, während Heuer über Handy im Dezernat anrief und mit Funkel Informationen austauschte.
Das Grab war bereits zugeschüttet. Sonja und Heuer sahen sich um. Alte Frauen gingen gebückt zwischen den Parzellen, aus Richtung der Urnenhalle näherte sich der Kleinlaster der Stadtgärtnerei, in dem zwei Männer saßen. Kinder waren nirgends zu sehen.
Ordentlich lagen die Kränze auf dem Erdhügel nebeneinander, und am Holzkreuz wehte die schwarze Schleife. Unter dem Foto hing etwas Weißes, das vorher nicht da gewesen war. Sonja sah näher hin. Es war ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Behutsam zog sie den Reißnagel aus dem Holz, nahm den Zettel ab und pinnte das Foto wieder hin.
Das Blatt war kariert, DIN A5, und auf beiden Seiten rot beschrieben. Eine krakelige
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