Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
Kopien habt ihr gemacht? Okay, mach noch fünfzig, dann haben wir dreihundert, das muss fürs Erste reichen. Tschüss.« Er legte auf.
    »So viel hatten wir noch nie«, sagte Weber. Aus seinem Bauch drang seit einigen Minuten ein gleichmäßiges, leises Knurren.
    »Okay, Umfrage. Was würdest du an seiner Stelle tun, Paul? Du bist jetzt neun Jahre alt, und dein geliebter Opa ist tot, und du hast das Gefühl, du kannst mit niemand drüber reden. Du bist Raphael.«
    Weber rieb seinen Bauch, der sich zwischen den beiden Hosenträgern mächtig hervorwölbte und fixierte einen Punkt an der Wand, schräg über dem kleinen Tontopf, in dem Erika Haberl, die Sekretärin der Vermisstenstelle, aus unerfindlichen Gründen Basilikum kultivierte. »Weil ich schlau genug war, die Polizei auszutricksen, geh ich erst mal nicht wieder zum Friedhof hin, zumindest nicht, solang es nicht dunkel ist. Vielleicht geh ich dann noch mal hin, aber eher nicht. Lieber überleg ich mir, wie ich da hinkomme, wovon mein Opa immer geschwärmt hat und wo wir immer mal hinwollten. Wo ist das? Amerika? In eine Straßenbahn setz ich mich jedenfalls nicht rein. Wenn mein Opa kein Straßenbahnfahrer mehr ist, will ich auch nie wieder fahren.«
    Er schaute seinen Chef an und dann Martin Heuer, der neben ihm saß.
    »Weiter«, sagte Heuer, der keine Lust hatte, sich in einen neunjährigen Jungen zu verwandeln. Er war selber erst achtunddreißig und hatte keinen Opa mehr und kein Zuhause. Bevor solche Gedanken ihn jetzt aus dem Gleichgewicht brachten, stand er auf, ging zum Fenster und öffnete es. Die Luft war angenehm kühl.
    »Freya?«, fragte Thon.
    Sie kannte dieses Fragespiel nicht und hielt es sofort für zweifelhaft und merkwürdig. »Ich kann das nicht beurteilen«, sagte sie, »ich weiß zu wenig von dem Jungen …«
    »Keine Ausreden, Freya, was hast du getan, als du so alt warst und enttäuscht worden bist oder jemand gestorben ist, den du geliebt hast?«
    »Meine Leute leben alle noch«, sagte sie fröhlich, was Sonja, die die ganze Zeit ernst dreingeschaut hatte, ein Lächeln entlockte. »Aber wenn es stimmt, dass der Junge schon ein paar Mal von zu Hause weggelaufen ist, um bei seinem Vater zu übernachten, dann würd ich mich an den halten, ja, ich glaub, das würd ich machen, der ist zwar streng und gemein, aber er hat mich noch nie rausgeschmissen oder weggeschickt.«
    Wie Thon zufrieden feststellte, redete sie wie zuvor Paul Weber im Tonfall eines Kindes, und das war genau das, was er erwartete.
    Jetzt war Sonja an der Reihe, und sie konnte nicht erklären, wieso, aber ihre Antwort kam so prompt und entschieden, als hätte sie sich jedes Wort vorher gründlich überlegt. »Ich würd mich in der leeren Wohnung verstecken«, sagte sie und sah Thon in die Augen.
    »Hast du denn einen Schlüssel?«, fragte er.
    »Klar hab ich einen«, sagte sie, und sie schwiegen.
    Ohne anzuklopfen, kam Karl Funkel herein, und sie beendeten die Sitzung. Thon berichtete dem Kriminaloberrat von den ersten Recherchen, während Sonja Feyerabend und Martin Heuer sowie Paul Weber und Freya Epp, in Zweierteams aufgeteilt, ihren Einsatzplan besprachen.
    Es war kurz vor zwölf Uhr mittags an diesem dreiundzwanzigsten August, und keiner von all denen, die an diesem verregneten Sommertag mit der Fahndung nach dem neunjährigen Raphael Vogel begannen, ahnte, welche Tragödie die Suche nach dem Jungen heraufbeschwören sollte.
     
    Sie betete, dass es zu ihr sprechen möge, aber es sprach nicht. Sie schaute es an, die Hände gefaltet, und flehte es an, sie zu erhören. Aber es erhörte sie nicht. Es blieb stumm, und ihre Hände zitterten, als sie zum Wasserglas griff und einen Schluck trank. Keine Tabletten mehr, hatte sie sich vorgenommen, sie wollte endlich wieder klar im Kopf werden, aber der Nebel lichtete sich nicht, der schwere Nebel vor ihren Augen; alles, was sie wahrnahm, waren die Ränder eines blassen schmalen Kindergesichts und eine Tür mit einer Milchglasscheibe, eine geschlossene Tür, hinter der jemand rumorte, hinter der etwas passierte, und sie wollte nachsehen, aber sie schaffte es nicht, aufzustehen. »Hilf mir«, sagte sie leise, doch das stumme graue Telefon gab keinen Ton von sich. Sie schaute es an, als wäre es ein Tabernakel, in dem der Herr auf sie wartete, um sie zu retten.
    Ihr Herr war kein Gott. Sondern ein arbeitsloser Kaufhausdetektiv. Der plötzlich, wie vom Himmel herab, in der Küche stand. Und auf sie zukam und losschlug. Schlug los,

Weitere Kostenlose Bücher