Die Erfindung des Abschieds /
Bescheid, was da so abgeht bei denen zu Hause, also die Geschichte mit dem Vater, der ausgezogen ist und jetzt bei seiner neuen Freundin wohnt in der …«
»Ja«, sagte Thon, »bitte sag uns einfach, hast du mit jemandem sprechen können, der eine Ahnung hat, wohin Raphael verschwunden sein könnte?«
Heuer nickte, und als Sonja ihn jetzt ansah, stellte sie fest, dass sie heute beide einen Rollkragenpullover trugen, er seinen braunen, sie ihren schwarzen; allerdings war ihrer aus Cashmere und seiner ein Nylongemisch, das nach nichts aussah. Er bemerkte ihren Blick, grinste, zeigte auf ihren Pullover, zupfte an seinem und hob den Daumen hoch. Sie musste lächeln. Es hatte eine Zeit gegeben, da zog sie mindestens einmal pro Woche mit Martin um die Häuser, mit Martin und seinem besten Freund, der auch ihr bester Freund war, jeder wusste alles vom anderen; manchmal flirtete Martin ein wenig mit ihr, unbeholfen wie ein Junge, und sie tanzten zusammen und machten ihren Freund eifersüchtig, der sich daraufhin dem Tequila hingab; sie waren Erwachsene und benahmen sich wie Teenager, sie waren Polizisten und gingen in jeden Gangsterfilm, der im Kino lief, und lachten die Bullen aus, die da oben herumsprangen und nicht kapierten, was überhaupt Sache war; es war eine Zeit prall voll Gegenwart, ein großes Jetzt, das sieben Jahre dauerte und dann zu Ende war und nie mehr wiederkam; doch die Erinnerung würde sie quälen, solange sie Martin jeden Tag sah und am Telefon auf eine Stimme wartete, die aufgehört hatte, mit ihr zu sprechen.
»Also dieses Mädchen«, sagte Freya und unterstrich auf einem ihrer Zettel ein Wort mit einem roten Filzstift, »die Sunny Heus, das ist die Tochter von dem Schauspieler Heus, der in der Serie ›Nachtfalken‹ mitspielt, die hat mir gesagt, der Raphael hätt ihr verraten, er würd mit seinem Großvater weggehen, wenn sich seine Eltern nicht wieder vertragen …«
»Und wohin weggehen?«, fragte Sonja.
»Das hat er ihr nicht verraten.«
Thon lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf, stöhnte, stand auf und ging hin und her. Vor der Wand gegenüber dem Fenster hatten sie eine Tafel aufgestellt, auf der alle möglichen Namen, Uhrzeiten und Orte verzeichnet waren und am oberen rechten Rand eine Beschreibung des Jungen: neun Jahre, schmächtig, halblange hellbraune Haare, kleine Narbe über der Oberlippe, karierter Wollpullover, dunkelbraune Wildlederjacke, Nike-Schuhe, schwarzer Rucksack mit roten Streifen und der Aufschrift
Walking Man.
Als Heuer auf dem Friedhof nach Raphaels Augenfarbe gefragt hatte, musste Thomas Vogel lange überlegen, bevor er hervorstieß: »Braun natürlich!« Für Kirsten dagegen waren die Augen »eher schwarz«, aber sie war sich nicht sicher und schämte sich dafür. Heuer hatte ihr erklärt, dass fast alle Leute, die einen Freund oder sogar ihren Partner als vermisst meldeten, bei der Beschreibung plötzlich die einfachsten Dinge nicht mehr wussten, zum Beispiel Größe, Alter oder die Farbe der Augen oder Haare. In den meisten Fällen wären diese Angaben ohne Bedeutung, da die Polizei bei verschwundenen Erwachsenen nicht sofort eine Großfahndung auslöste, sondern erst mehrere Tage abwartete, ob der Vermisste nicht freiwillig zurückkehrte; was fast immer geschah.
Kam jedoch ein Kind unerwartet nicht nach Hause, brach bei Eltern und Freunden Panik aus, und Heuer hatte oft genug darunter gelitten, wie schwierig es war, aus all den widersprüchlichen und überhasteten Aussagen die echten Fakten herauszudestillieren, die für die Suche am effektivsten zu gebrauchen waren. Seit in den Nachrichten so oft Meldungen über Kinder auftauchten, die von Sexualtätern entführt und ermordet wurden, riefen Bürgerinitiativen nach schärferen Gesetzen und stärkerer Polizeipräsenz, was besonders Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle, zu spüren bekam.
Und wenn die Zeitungen morgen das Foto des kleinen Raphael Vogel veröffentlichten, würde wieder ein Aufschrei durch die Stadt gehen, und im gesamten Dezernat 11 gäbe es keinen Beamten, nicht einmal in der Abteilung für Brandfahndung und Umweltdelikte, der mit diesem Fall nicht in Berührung käme.
»Hat er einen besten Freund?«, fragte Thon, nachdem er die Worte
Großvater – Raphael: gemeinsam weg
auf die Tafel geschrieben hatte.
»Ich bin froh, dass ich jetzt in den Ferien überhaupt irgendeinen Freund von ihm getroffen hab, die sind doch alle verreist«, sagte Freya. »Außerdem ist der Junge ein
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