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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Raff gesehen, wann?« Er trat auf sie zu, und in einem ersten Impuls wollte sie ihm ausweichen, doch dann blieb sie stehen und zeigte mit dem Finger auf ihn.
    »Von Ihnen lass ich mich doch nicht einschüchtern, was bilden Sie sich überhaupt ein? Sie haben Ihre Frau im Stich gelassen, oder etwa nicht? Sie haben eine Freundin, obwohl Sie einen Sohn haben, der Sie braucht. Hören Sie ja auf, mir zu drohen! Wahrscheinlich ist der Kleine wegen Ihnen weggelaufen …«
    »Was? Was ist?« Er war nahe dran, sie gegen das Treppengeländer zu drücken. Er stand direkt vor ihr, aber sie wich keinen Zentimeter zur Seite; ihr Pudel verkrümelte sich hinter ihren wuchtigen Schuhen.
    »Ich sag, wahrscheinlich ist er wegen Ihnen weggelaufen …«
    »Woher wollen Sie wissen, dass er weggelaufen ist, ha?«
    »Bitte? Raphael ist weggelaufen? Aber – aber, das ist das Erste, was ich hör. Ich hab … ich hab doch nur gesagt, dass ich ihn gesehen hab, mit seinem Rucksack, den mit den roten Streifen, ich hab gedacht, heut geht er aber schon früh zu seinem Großvater, aber dann hab ich mir gedacht, vielleicht machen sie ja einen Ausflug, weil doch Ferien sind und weil er seinen Rucksack dabei gehabt hat. Hätte doch sein können, oder?«
    Sie schaute ihn an, spielte mit dem Einkaufsnetz und versuchte, einen Blick in die Wohnung zu werfen, was ihr nicht gelang. Vogel versperrte ihr die Sicht.
    »Ham Sie nicht gesehen, wo er hingegangen ist, oder was?«, fragte er und verzog den Mund.
    »Nein«, sagte Frau Tausig schnell, »er ist hier den Mühler Weg vorgelaufen, wie immer, ich hab mir doch nichts dabei gedacht, ich hab auch nur kurz aus dem Fenster geschaut, Sie wissen ja, mein Küchenfenster geht auf die Straße raus …«
    »Und wo ist er dann hin?«
    »Das weiß ich nicht, Herr Vogel. Was ist denn passiert, Herr Vogel?«
    »Raphael ist verschwunden«, ertönte eine leise Stimme aus dem Flur. Kirsten war aus dem Bad gekommen und hielt sich ein Taschentuch an die Nase. »Hallo, Frau Tausig. Er … er ist heut früh weggegangen und ist immer noch nicht zurück … Auf der Beerdigung war er auch nicht …«
    »Wer ist denn gestorben, um Gottes willen?«, fragte Mathilde Tausig.
    »Sein Vater ist heute beerdigt worden«, sagte Kirsten und warf ihrem Mann einen Blick zu.
    »Um Gottes willen! Ja herzliches Beileid, Herr Vogel, ja so was, Ihr Herr Vater, allerherzlichstes Beileid …«
    »Ist okay …«
    »Wie alt war er denn, wenn man fragen darf?«
    »Vierundfünfzig.«
    Frau Tausig schwieg, dafür fing der Hund wieder an zu bellen, kläffte zwischen den Schuhen hindurch, hüpfte nah an der Treppenkante herum, und es sah aus, als würde er jeden Moment in den Keller plumpsen.
    »Sie hat den Raff gesehen«, sagte Vogel und drehte sich zur Wohnungstür um.
    »Echt?«, fragte Kirsten und presste die Arme an den Körper, denn sie fror erbärmlich.
    »Ich hab zufällig aus dem Fenster geschaut, da hab ich ihn weggehen sehen, ich hab gedacht, heut ist er aber früh dran, aber ich weiß ja, dass er ein selbstständiger Junge ist und dass er wahrscheinlich zu seinem Opa …«
    »Aber doch nicht um sechs Uhr!«, sagte Kirsten. Sie hatte sich Socken und weiße Espandrillos angezogen, aber ihre Füße waren immer noch aus Eis.
    »Wieso hat er denn das gemacht?«, fragte Frau Tausig, bückte sich mit einer Gewandtheit, die man ihr bei dem Gewicht nicht zugetraut hätte, und verpasste ihrem Hund einen Klaps auf den Kopf, so dass er sofort aufhörte zu bellen.
    »Das möcht ich auch wissen!«, sagte Vogel und verschwand in der Wohnung.
    »Und sonst ist Ihnen nichts an ihm aufgefallen?«, fragte Kirsten.
    Frau Tausig schüttelte den Kopf. Es war ihr nicht entgangen, dass Kirsten rote Flecken im Gesicht und verweinte Augen hatte. Die beiden Frauen sahen sich an und sagten nichts. Hinter der zweiten Wohnungstür im Parterre war ein Scharren zu hören; sie wurden beobachtet, wie immer.
    »Danke«, flüsterte Kirsten.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Frau Tausig.
    Kirsten blickte zu Boden, drückte die Arme noch fester an den Körper, wandte sich um und ging in die Wohnung. Noch einmal sah sie die alte Frau an, dann schloss sie die Tür und blieb im dunklen Flur stehen.
    Im immer gleichen Rhythmus klopfte der Regen gegen ein Fenster.
    »Wir müssen das der Polizei sagen!« Kirsten ging ins Wohnzimmer und zündete sich eine Zigarette an. Sie setzte sich auf die Couch, über die eine bunt bestickte Decke gebreitet war, nah an den Rand, die Beine

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