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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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taumelte ins Treppenhaus.
    »Warte doch, Thomas! Bitte, sag mir, was Raphael gesagt hat, bitte!«
    An der Haustür hielt Vogel kurz inne, schaute seine Frau an, als wäre sie schuld an der Vertreibung aus dem Paradies und verschwand im Regen. Langsam fiel die Tür ins Schloss.
    Kirsten streckte die Arme aus, die Handflächen nach oben, und blickte zur Decke. Die Spionin hinter der Tür im Parterre sah sie da stehen wie eine erbärmliche Madonna, die ungehört um Gnade bittet. Kirsten setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe, die hinunter zur Haustür führte, und umschlang ihre Beine. »Lieber Gott, mach, dass Raphael nichts zustößt und dass er bald wieder zu mir zurückkommt!«, flüsterte sie, und die Schmerzen von den Schlägen waren so stark, dass sie unfähig war aufzustehen und in ihre Wohnung zurückzugehen. So blieb sie auf dem kalten Steinboden sitzen und dachte an ihren Sohn, den sie empfangen hatte, als sie neunzehn war und sich gerade an einer Hotelfachschule beworben hatte. Es war eine Sommernacht, und Thomas versprach ihr, vorsichtig zu sein. Dann fragte er sie, ob sie ihn heiraten wolle, und weil er eine feste Anstellung als Polizeihauptwachtmeister in Aussicht hatte, sagte sie ja, und sie nahmen sich eine gemeinsame Wohnung, und Raphael wurde geboren, und es war keine Rede mehr von Hotelfachschule und Ausbildung und eigenständiger Zukunft. Für Raphael hatte sie gern auf das alles verzichtet, und auch als Thomas die Anstellung beim Staat nicht bekam, weil er sich angeblich nicht korrekt verhalten hatte, worüber sie bis heute nichts Konkretes wusste, ging das Leben weiter. Sie fuhren sogar in Urlaub an den Gardasee, und Thomas fand eine Stelle bei einem Sicherheitsdienst, verdiente manchmal inklusive seiner vielen Überstunden viertausend Mark im Monat, und damit kamen sie gut über die Runden; sie lebten bescheiden, und Kirsten achtete darauf, dass Raphael immer saubere Sachen anhatte und regelmäßig neue Turnschuhe trug, so wie die anderen Kinder. Freunde hatten sie nicht viele, Kirsten mochte Thomas’ Kollegen nicht besonders, und so blieb sie von einem bestimmten Zeitpunkt an zu Hause, wenn ihr Mann mit seinen Kumpeln ins Wirtshaus ging, wo er eine Menge Geld verprasste; wenn sie ihm Vorhaltungen machte, wurde er wütend, und irgendwann schlug er sie das erste Mal. Sie wehrte sich, und er wurde immer unbeherrschter. Eines Nachts band er sie ans Bett und schlug mit dem Gürtel so lange auf sie ein, bis sie bewusstlos wurde. Und Raphael kriegte alles mit. Merkwürdig fand sie, dass Thomas im Gegensatz zu anderen Männern, die sie kennen gelernt hatte, nicht ausrastete, weil er zu viel getrunken hatte; er trank wenig Alkohol, und jetzt, seit einigen Monaten, trank er überhaupt keinen mehr. Er war vollkommen nüchtern, wenn er sie verprügelte, er wusste, was er tat, und er entschuldigte sich nie. Einmal schoss er ihr auf dem Frühlingsfest eine rote Plastikrose und überreichte sie ihr im Bierzelt, das war ein schöner Moment gewesen, sie hatten mit ihren Maßkrügen angestoßen, und die Blasmusik spielte, und sie hätte Lust gehabt zu tanzen. Aber Thomas tanzte nie. Als er die Stelle beim Sicherheitsdienst kündigte, kam er tagelang nicht nach Hause. Sie alarmierte die Polizei, aber die konnte nichts unternehmen, schließlich handelte es sich um einen Erwachsenen, der tun und lassen konnte, was er wollte. Als er wieder auftauchte und kein Wort darüber verlor, wo er gesteckt hatte, legte er sich vor den Fernseher, trank Dosenbier und redete mit niemandem, nicht mal mit seinem Sohn. Raphael weinte, weil sein Vater ihn ignorierte, und Kirsten versuchte, ihren Mann dazu zu bringen, wenigstens auf Raphael Rücksicht zu nehmen. Das machte ihn wütend, und er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht und brach ihr das Nasenbein. In den zwei Wochen im Krankenhaus fing sie an, Schmerztabletten zu nehmen, weniger gegen den Schmerz, sondern gegen die Hilflosigkeit und die Angst und die leere Welt, die sie sah, wenn sie in den Spiegel schaute. Es war immer ihr größter Wunsch gewesen, eines Tages ein Hotel zu führen, Gäste zu beherbergen und umgeben zu sein von Menschen mit interessanten Schicksalen. Sie stellte sich den Geruch der Foyers vor mit den schweren Ledermöbeln auf den kostbaren Teppichen, die Weitläufigkeit der Räume, die gedämpften Gespräche und das Klappern des Geschirrs, das man aus der chromblitzenden Küche hörte; im Speisesaal hingen funkelnde Lüster, die Tische zierten

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