Die Erfindung des Abschieds /
aneinander gepresst und den muschelförmigen Aschenbecher auf den Knien. Vogel stand am Fenster und schaute durch die Gardine hinaus auf die Rasenfläche, in der ein Schild steckte:
Betreten verboten.
Der Regen verwandelte den ordentlich gestutzten Rasen in ein graues Nichts.
»Wozu denn?«, sagte Vogel, ging zum Fernseher, nahm die Fernbedienung und schaltete den Apparat ein. »Die Alte hat ihn weggehen sehen, sonst nix. Die steht den ganzen Tag hinter dem Fenster und beobachtet die Leute. Aber sehen tut sie nix. Und kapieren tut sie auch nix.«
»Er wird ganz nass werden, er hat doch keinen Schirm dabei, und seine Kapuze hängt im Flur«, sagte Kirsten zu ihrer Zigarette, bevor sie sie im Aschenbecher ausdrückte. Sie zuckte zusammen, als aus dem Fernseher laute Volksmusik ertönte. Vogel stellte den Ton ab und schaute hin: Ein junges Paar sang ein Lied, umrahmt von blühenden Bäumen und Rosenstöcken, im Hintergrund grüne Hügel im Sonnenlicht; die Zuschauer, die auf langen Bänken in einer Marktplatzattrappe mit Fachwerkhäusern und einem Maibaum saßen, klatschten im Takt und schunkelten dazu.
»Und wenn er gar nicht weggelaufen, sondern entführt worden ist?«, sagte sie und brachte ihren Blick nicht mehr vom Fernseher, wo sich das junge Paar an den Händen hielt und in einer Weinlaube anlächelte.
»So ein Scheiß, den du da quatschst!«, schrie Vogel und warf die Fernbedienung auf die Couch. »Der Junge ist nicht entführt worden, der hat’s hier nicht mehr ausgehalten, dem stinkt das, dass seine Mutter nie da ist und mit einem Scheißtypen rummacht …«
»Hör doch auf, Thomas, bitte hör auf …«
»Was? Hast du was zu sagen? Hast du mir was zu sagen?«
Er stand vor ihr, und sie duckte sich. Saß am äußersten Rand der Couch und kratzte sich mit den Fingernägeln die linke Hand, innen und außen, bis sie Striemen hatte und Blutfäden ihre Haut überzogen.
»Hör auf damit!«, schrie er und schlug ihr auf die Hände. Sie hörte auf und sah, halb verdeckt von ihrem Mann, wie sich das junge Paar verbeugte und ein Mann einen großen Blumenstrauß brachte, den das Mädchen mit leuchtendem Gesicht entgegennahm.
Nirgends in ihrer Wohnung gab es frische Blumen. Das fiel Kirsten jetzt ein, und sie faltete die Hände und stieß einen Seufzer aus. Von welchem Geld sollte sie sich diesen Luxus leisten?
Das Telefon klingelte. Ein schnarrendes Klingeln aus der Finsternis des Flurs. Kirsten sprang auf und hatte den Aschenbecher auf ihren Knien vergessen. Asche und Kippen verteilten sich auf dem Teppich, und bevor es ein drittes Mal klingelte, hatte sie den Hörer in der Hand.
»Ja«, keuchte sie, »ja, bist du dran, Raff? Was? Du! Ich hab jetzt keine Zeit, entschuldige bitte, nein, ja, dann kommst du eben nicht, was? Kann ich dir jetzt nicht sagen, nein …«
Vogel riss ihr den Hörer aus der Hand. »Verpiss dich, Arschloch!«, brüllte er ins Telefon und knallte den Hörer auf.
»Er kann doch nichts dafür«, sagte Kirsten.
»Mach mir einen Kaffee!«
»Ja.«
Sie wollte in die Küche gehen, als das Telefon erneut klingelte. Diesmal war Vogel schneller als sie.
»Ansage, du Arschloch: Wenn du noch einmal hier anrufst, komm ich vorbei und tauch deinen Eierschädel so lang ins Benzin, bis du denkst, du bist dein eigner Diesel, kapiert, Garbo? Und noch was … Was? Was willst
du
denn? Was?«
Kirsten stellte sich dicht neben ihren Mann, um etwas von dem zu verstehen, was der Anrufer sagte. Sie glaubte, eine Frauenstimme zu hören.
»Wann?«, sagte Vogel und drehte den Kopf weg, und Kirsten schaute zu Boden. »Und was hat er gesagt, red lauter, Mensch, wieso quatschst du so leise? Ist mir egal, wo du bist, was? Ja! Scheiße! Ich fahr sofort zu dir, ja! Scheiße!« Wieder knallte er den Hörer auf den Apparat, wischte sich über den Mund und holte den Autoschlüssel aus seinem Jackett.
»Was ist denn?«, fragte Kirsten. »Hat sich Raphael bei dir gemeldet? Bitte, sag doch was!«
Er war schon an der Tür. »Er hat angerufen und wollt mich sprechen. Wieso bin ich bloß hergekommen, verflucht!«
»Und … und was hat er denn gesagt? Geht’s ihm gut? Was hat er denn gesagt? Wo ist er denn jetzt?«
»Ich schwör’s dir, Kiki, wenn Raff was passiert, dann bring ich dich um!« Er stieß Luft durch die Nase, drehte sich um und knallte die Tür von außen zu.
Kirsten stand allein im Flur, ihre Ohren dröhnten. Dann, nach langen Sekunden, löste sie sich aus der Erstarrung, machte die Tür auf und
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