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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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da nicht hin, das geht gar nicht anders. Du kannst leicht sagen, versuchen wir’s nochmal, aber ich muss täglich mit ihm umgehen, und die Kollegen auch.«
    »Vielleicht solltest
du
mal ein paar Tage ausspannen, Volker«, sagte Sonja, die mit der Befragung von August Anz fortfahren wollte, anstatt hier herumzustehen. »So wie du dich in der Pressekonferenz benommen hast, frag ich mich, ob das effiziente Polizeiarbeit war. Die Artikel, die morgen in der Zeitung stehen, kannst du dir übers Bett hängen, da werden ein paar feine Sachen über dich drinstehen.«
    »Ist genug, Sonja«, sagte Funkel. »Wir haben schon kurz darüber gesprochen, Volker und ich. Das war nicht gut, wie er da reagiert hat, und wir müssen jetzt das Beste daraus machen. Wir sind alle sehr angespannt, und ich hoffe, Tab, dass du ab morgen voll für uns einsatzfähig bist. Martin taucht schon wieder auf, mach dir keine Sorgen! Ich werd ihm Urlaub geben und ihn zum Arzt schicken, ob er will oder nicht. Bestimmt erholt er sich schnell wieder, jetzt, wo du wieder da bist.«
    Er sah Süden an, der unmerklich nickte, und dann Thon, der wie abwesend mit den Schuhspitzen wippte. Sonja war wieder einmal verblüfft, wie perfekt die Kommunikation zwischen Männern funktionierte, indem diese wortlos beschlossen, ihre wahren Probleme einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen.
    Das Telefon klingelte. Thon stand auf und ging zu seinem Schreibtisch.
    »Ja? Was?« Erschrocken sah er seine Kollegen an, hörte zu und legte langsam auf. »Zwei Kollegen von der Streife haben Martin gefunden. In einem Bordell. Er ist tot.«
     
    Der Regen hatte wieder eingesetzt und prasselte auf die prall gefüllten Abfalltüten, Kartons, Gläser, Dosen, Zeitungen und den übrigen Dreck, und er prasselte auf den zerrissenen Kopf eines Mannes.
    Seine Leiche lag in einem Container, die Pistole auf der Brust, seine Dienstwaffe, Heckler & Koch, neun Millimeter, eingehüllt in seine türkisfarbene Bomberjacke, die Beine angewinkelt und die Augen weit aufgerissen.
    Martin Heuer war hineingeklettert, hatte den Deckel zugeklappt und sich in den Mund geschossen.
    Der Knall war so laut gewesen, dass die gesamte Belegschaft des Bordells in den Hinterhof gerannt war und die Kunden, zwei Herren in Anzügen, an der Bar zurückgelassen hatte.
    Minutenlang starrten Tabor Süden, Sonja Feyerabend, Karl Funkel und Volker Thon auf ihren toten Kollegen, und der Regen trommelte auf sie herab. Es stank nach Kot und verfaulten Lebensmitteln.
    Die Scheinwerfer der Autos tauchten den Hof in kaltes Licht. Die leicht bekleideten Mädchen umarmten sich, während die beiden männlichen Gäste ihr Geld auf die Theke legten und zu ihren Autos eilten, wo sie von Streifenpolizisten aufgehalten und gebeten wurden zu bleiben, um ein paar Fragen zu beantworten.
    Sonja nahm Südens Hand. Er wandte den Kopf ab, weil er nicht länger mit ansehen konnte, wie der Arzt, der vorher umständlich in den Container gestiegen war, den Leichnam untersuchte.
    »Ich bin zurückgekommen, um meinen besten Freund zu beerdigen«, sagte Süden.
    »Halt mich fest!«, sagte Sonja. »Halt mich fest!«
    Er hielt sie fest, und als der Arzt aus dem Container kletterte und ihm die Hand zum Trost auf die Schulter legte, drückte er Sonja noch fester an sich, und sie krallte ihre Finger in seinen Rücken. Niemand brachte sie auseinander, nicht einmal die Beamten vom Kommissariat 114, »Vermisste und unbekannte Tote«, die für Selbsttötungen zuständig waren; sie schoben den Container um Süden und Sonja herum, hoben die Leiche heraus und legten sie auf eine Trage; anschließend entkleideten sie den Toten und untersuchten ihn routinemäßig auf Spuren von Gewalteinwirkung.
    Beim Anblick seines nackten Freundes machte sich Süden von Sonja los und fing an zu tanzen.
    Er warf die Arme in die Höhe und drehte sich wild im Kreis. Er schrie so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Und das Schreien ging über in einen rhythmischen Gesang. Keiner der Anwensenden, die erschrocken und fasziniert zugleich einen Kreis um ihn bildeten, verstand die Worte.
    Ekstatisch wie ein Derwisch tanzte er um die Leiche von Martin Heuer, sang aus vollem Hals zum Himmel empor, und sein Schatten sprang über die Mauerwände wie ein Geist.
    Die Prostituierten rückten näher zusammen und blieben noch lange stehen, nachdem der Tanz des merkwürdigen Mannes so abrupt zu Ende gegangen war, wie er begonnen hatte.
    Nach einigen Minuten sank Tabor Süden erschöpft auf die Knie,

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