Die Erfindung des Abschieds /
gedacht, du bist verrückt geworden, du bist durchgedreht! Du bist Polizist, Mann, du kannst dich nicht einfach in eine Hütte im Wald setzen und anfangen, Indianer zu spielen! Du bist ein erwachsener Mann, und es ärgert mich, dass ich hier den Papa machen muss für euch. Für meine Kinder bin ich der Papa, für sonst niemand, geht das in deine Birne rein?«
Er hielt inne, einen Schritt vor seinem Kollegen, und Süden hörte auf, durch die Nase zu atmen.
»Gib deine Marke zurück, Tabor!«, sagte Thon, und seine Stimme klang wieder wie sonst, ruhig, kühl, norddeutsch. »Du bist den Aufgaben hier nicht mehr gewachsen, es tut mir Leid, du warst ein ordentlicher Polizist, und offensichtlich hast du die Simon-Sache nicht verkraftet, was ich bedauere. Aber du bist ein Risiko. Du warst immer ein Einzelgänger, aber solange du dich im Rahmen des Systems bewegt und Erfolge erzielt hast, konnte man nichts sagen. Jetzt fällst du aus dem System raus, das ist ganz deutlich, und ich darf das nicht zulassen, das weißt du. Du gehörst einfach nicht mehr dazu, Tabor.«
Süden nickte, ging an Thon vorbei, setzte sich auf einen Stuhl und bewegte den Kopf hin und her, um seine Nackenmuskeln zu entspannen. »Ohne mich hätten wir einige Fälle so schnell nicht gelöst«, sagte er, und es hörte sich nicht wie eine Rechtfertigung oder wie Selbstlob an, eher so, als spreche er von einem anderen. »Ich hab meine eigenen Methoden, ich sehe die Leute anders an, und alles, was ich tue, tue ich wegen der Sache, nicht wegen mir.«
Thon winkte ab.
»Es ist vollkommen egal, ob ich heute oder morgen meinen Dienst antrete, und es ist für mich selbstverständlich, dass ich wissen will, was mit meinem besten Freund los ist. Niemand hat ihn gesehen, keiner weiß was von ihm, nicht mal Sonja, also such ich ihn, so groß ist diese Stadt nicht. Und ich hab ihn nicht gefunden, und das verstehe ich nicht.«
»Das verstehst du nicht?« Thon kam auf ihn zu. »Ich versteh es: Er ist in einem Puff, hast du das nicht gewusst? Er geht regelmäßig in einen Puff, in irgendwelche billigen Absteigen …«
Süden fiel es schwer, das zu glauben; Sex hatte Martin nie besonders interessiert, schon gar nicht mit Frauen, für die er auch noch bezahlen musste. Früher hatte er nie an solchen Orten verkehrt.
Und dann dachte Süden an die Briefe, die er gelesen hatte und die von einem Mann handelten, den er nicht kannte und der doch sein engster Freund war.
»Habt ihr euch zusammengerauft?« Funkel stand in der Tür, hinter ihm Sonja Feyerabend.
»Ich hab den Kollegen gebeten, seine Marke endgültig zurückzugeben«, sagte Thon. »Ich bin der Meinung, dass er den schweren Aufgaben bei uns nicht mehr gewachsen ist.«
»Das stimmt nicht, Volker«, sagte Funkel.
»Und ob das stimmt!«, polterte Thon von neuem.
»Logisch stimmt das, das ham S’ im Fernseher doch selber gesagt! Der Kerl ist hier, und ich will ihn sofort sehen, verflucht! Wo isser?«
»Er ist nicht hier, glauben Sie mir das, Herr Vogel, ich bitte Sie!«
Der Pförtner an der Einfahrt zum Polizeipräsidium hatte, weil der junge Mann handgreiflich geworden war und sich nicht hatte abschütteln lassen, beim Bereitschaftsdienst angerufen. Hauptkommissar Jäger war nach unten gekommen und versuchte seit fünf Minuten, Ruhe herzustellen.
»Ich lass mich von Ihnen nicht verscheißern, ich zahl meine Steuern für Sie genauso wie jeder andere Bürger. Ja? Mein Sohn ist weggelaufen, und Sie ham da drin einen, der weiß, wo er ist.« Vogel nahm die Hand nicht aus der Jackentasche, in der er die Pistole gebunkert hatte, für alle Fälle. Er hatte nicht die Absicht, sich von einem Bullen linken zu lassen, das hatte noch nie einer bei ihm geschafft, und er kannte ihre Methoden, er ist ja beinahe selber mal einer von ihnen gewesen.
»Wir werden Ihren Jungen bestimmt bald finden, und vielleicht kommt er ja auch von selber zurück. Aber der Mann, den Sie meinen, der ist wirklich nicht hier im Gebäude.«
»Und wieso sagen die das dann im Fernsehen?« Wenn er die beiden wegstieß und sofort losspurtete, wäre er drin, bevor sie wieder auf den Beinen waren.
»Die Pressekonferenz, von der Sie sprechen, fand im Dezernat 11 statt, und das ist nicht bei uns«, sagte Jäger, ein zweiundfünfzigjähriger kahlköpfiger Mann, von dem seine Kollegen behaupteten, er habe, als Gott den Gleichmut verteilte, eine doppelte Portion abbekommen. »Das Dezernat ist in der Bayerstraße, direkt beim Hauptbahnhof, da sitzt
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