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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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seine kleine Welt aus Arbeit und Einsamkeit und sinnlosen nächtlichen Vergnügungen; sie wussten Bescheid, und manchmal redeten sie ein wenig mit ihm, wie früher, tranken zusammen, »Möge es nützen!«, und einmal gingen sie sogar wieder gemeinsam ins Kino. Und dann hatten sie ihn wieder ziehen lassen: drei Erwachsene, so stolz auf ihr Erwachsensein, und waren doch nur Kinder …
     
    »… Und wir waren doch nur Kinder, die sich im Finstern fürchten«, sagte Tabor Süden und holte aus seiner Anzugtasche mehrere zerknitterte weiße Blätter hervor. Er stand seitlich des Altars der Barockkirche, in der der Gottesdienst stattfand, und blickte in die Gesichter der Trauergäste. Sie waren gekommen, um dem Toten, ihrem Freund und Kollegen, die letzte Ehre zu erweisen. Und nun war er es, Martin Heuer, der ihnen in seinem mit krakeliger Schrift geschriebenen Abschiedsbrief die Ehre erwies, seine letzten wahren Gefährten gewesen zu sein, bevor er sich in einem Müllcontainer im Hinterhof eines schäbigen Bordells eine Kugel in den Kopf jagte.
     
    »Die Leere war Schwindel erregend, das könnt ihr euch bestimmt gut vorstellen, denn ihr habt sie auch in euch, jeder hat sie in sich, und die Leute glauben immer, Polizisten wären da anders, Polizisten wären Heilige, weil sie im Dienst der Gerechtigkeit unterwegs sind. Wohin? Wohin sind wir unterwegs? Ich hab es nicht herausgefunden. Ich hatte immer nur Angst vor der Dunkelheit, und immer mehr. Ich war überall in dieser Stadt, besonders bei Nacht, wenn man mehr sieht, weil die Schauspieler die Bühne geräumt haben und die unechten Lichter aus sind und die Kulissen und auch die Kulissenschieber so aussehen, wie sie wirklich sind. Hoffentlich denkt ihr jetzt nicht, ich spinne, weil ich so Sachen schreibe, ich sitze in einer Bar, und der Kopf dröhnt mir, und wenn ich das nicht aufschreibe, platzt er wahrscheinlich. Eine betrunkene Frau schaut zu mir herüber, sie ist auch nicht mehr die Jüngste, vielleicht geh ich zu ihr und frag sie, ob sie mit mir schlafen will; wenn die wüsste, dass ich gar nicht mehr schlafen kann! Ich denke viel an euch, an dich, Charly, an dich, Paul, und an dich, Volker, und an all die anderen, die Jungen, und an Sonja und Süden, das wisst ihr ja, aber das ganze An-euch-Denken hilft mir nicht. Es gibt keine Heiligen, schade ist das, wo sind die alle geblieben? Es tut mir Leid, dass ich euch enttäuscht habe in den letzten Monaten, ich bin euch dankbar, dass ihr mich nicht ausgelacht, sondern nur heimlich über mich geredet habt, das war gut. Wenn du diesen Brief liest, Tabor, dann möchte ich dir sagen, du hast keine Schuld, du hast getan, was du tun musstest, vielleicht wäre ich auch wie du in den Wald gegangen, wenn ich mir solche Vorwürfe gemacht hätte wie du, du hättest sie dir nicht machen müssen, aber darüber haben wir schon so oft gesprochen, und ich habe es dir in den Briefen geschrieben, die ich mich nicht getraut habe abzuschicken. Wo hätte ich sie auch hinschicken sollen? Gibt’s da einen Briefträger in deinem Wald? Bringt dir eine Amsel die Post? Oder eine ehrliche Elster? Du bist nicht schuld an dem, was mit mir passiert ist, das ist niemand, ich habe versucht wegzuschauen von mir, aber das ist mir nicht gelungen. Ich weiß nicht, warum ich nicht mehr herausfinde aus diesem Keller, in den ich mich wieder einmal verirrt habe. Diesmal habe ich keine Kraft, also bleib ich sitzen. Auch wenn die Alte da drüben dauernd herschaut und lächelt … Ich bin zu ihr rübergegangen, und sie hat mir ihren Namen gesagt, Saba, und sie hat mir ihre lange Zunge in den Mund gesteckt, und dann ist sie gegangen, und ich wollte nicht mitgehen. Ich bleib lieber für mich. Ich hab mich dann ins Auto gesetzt und bin durch die Stadt gefahren, bis es hell wurde. In der Michaelskirche habe ich später eine Kerze für den kleinen Raphael angezündet, vor dem Bild der Madonna, sie muss ihm helfen, oder uns, damit wir ihn wieder finden. Jetzt sitze ich in der
Augustiner
-Schwemme, da falle ich nicht weiter auf, das sind alles Sitzengebliebene, wie ich einer bin, sitzen geblieben, Versetzung verfehlt. Die höhere Klasse könnt ich mir auch gar nicht mehr leisten, ich hab Schulden bei Lilo, es tut mir Leid, Lilo, ich kann dir das Geld nicht zurückzahlen. Im
Augustiner
war ich damals mit Johanna, jeden Freitagabend, wir saßen im Restaurant, und sie hat mir von ihrer Arbeit im Kaufhaus erzählt, sie war eine tüchtige Verkäuferin und eine ebensolche

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