Die Erfindung des Abschieds /
Trinkerin, ich hab ihr zugesehen, wie sie das Glas mit fester Hand hochhob und genussvoll trank, und sie war auch beim Essen genussvoll, sie hatte immer Hunger, und ich nie. Sie aß meine Portionen mit. Und dann hat sie geheiratet, wie ihr wisst, und das war eine schwere Zeit … Als Polizist darf man nicht so viel trinken, und ich trinke auch nichts, am Chinesischen Turm wird nichts ausgeschenkt, weil das Wetter so schlecht ist. Ich bin aber nicht der Einzige hier, drüben sitzen fünf Männer und haben Bierflaschen dabei, ich nicht. Ich fahr so herum, und dabei müsste ich längst im Dienst sein und den kleinen Raphael suchen. Er wird schon wiederkommen. Wenn seine Traurigkeit weniger wird, geht er zu seinen Eltern zurück, das weiß ich. Ich geh nicht zurück. Wenn ich vorhin im
Augustiner
geblieben wäre, vielleicht hätte ich mich an Johannas Tisch gesetzt und mit ihr gesprochen, und sie hätte mir gesagt, dass ich verrückt bin und nach Hause gehen und meinen Rausch ausschlafen soll. Sie ist eine pragmatische Frau. Aber ich bin ein unpraktischer Mann. Ich bin nicht dazu gekommen, an ihren Tisch zu gehen, weil mich zwei Kellner rausgeschmissen haben, denn ich konnte die Zeche nicht bezahlen. Das tut mir Leid, ich hab noch nie die Zeche geprellt, aber diesmal habe ich nicht rechtzeitig in meinen Geldbeutel gesehen. Ich hole mir Geld aus dem Automaten. Und dann gehe ich zurück und bezahle meine Zeche nachträglich. Es fängt wieder an zu regnen, ich höre die Tropfen auf den Blättern am Baum, unter dem ich sitze. Die Luft ist gut, das ist die gute Münchner Luft. Zum Chinesischen Turm wäre ich gerne nochmal mit euch gegangen, an unserem Betriebsausflug zum Beispiel, das wär ein guter Anlass gewesen. Geht auch alles ohne mich … Es hat sich nichts verändert in der Deisenhofener Straße 111, jedenfalls nach außen hin. Ich weiß nicht, warum ich hingefahren bin, das war klar, dass du nicht zu Hause bist, Tabor. Ich hab nicht geklingelt, hab mich nicht getraut. In meiner Jacke hab ich eine Streichholzschachtel, die mir nicht gehört, ich hab sie irgendwo mitgehen lassen aus Versehen. Von außen sieht die Absteige mickrig aus, wie ein spießiges Einfamilienhaus, das ist die richtige Adresse für einen Spießer wie mich. Vorhin hatte ich solche Lust auf eine Frau, jetzt ist mir die Lust vergangen. Ich bleib im Auto sitzen und beobachte, wer alles reingeht. Das ist lustig. Ich mach mir einen Spaß, wenn ich schon mal hier bin. Seid mir nicht böse! … Das Mädchen riecht nach Kölnischwasser, und das kann ich nicht ertragen. Alles, was ich mir vornehme, halte ich nicht ein. Ich tu nie das, was ich sage. Ich bin nicht mehr Herr über mich, ich bin zwei, und das ist fürchterlich. Das Mädchen schaut mich an, ich hab mich vor ihr ausgezogen, und ich bin hässlich in dem hässlichen Licht. Ich wollte euch noch sagen, dass ich es bereue, wie ich zu euch gewesen bin und dass ich mit keinem von euch gesprochen habe. Ich wollte es tun und hab Briefe an meinen Freund Tabor geschrieben, aber, wie gesagt, nicht abgeschickt, weil ich mich für meine Trostlosigkeit geschämt hab. So geschämt hab ich mich. Für die Trostlosigkeit und die Angst, die ich gehabt hab, wenn einer mit einer Pistole vor mir steht und abdrückt. Für die Unfähigkeit, den Stress auszuhalten, die viele Arbeit und die Unberechenbarkeit in unserem Job. Für meinen Schweiß hab ich mich geschämt und dafür, dass ich nie Hunger gehabt hab und immer dürrer geworden bin, dass ich ausseh wie ein Skelett, deswegen glotzt mich auch das Mädchen hier so an. Ich hab Schiss vor jedem Tag, und das darf nicht sein. Ich hab mich so verändert, dass ich mich selber nicht mehr kenne. Und wenn ich nach unten schaue, seh ich die Leere, die schwarze Leere, und das halt ich nicht mehr aus. Ich bitte euch um Verzeihung, ihr habt so lange mit mir durchgehalten, aber ich nicht mit mir. Ich halt mich nicht mehr aus. Erklärungen gibt’s viele, aber keine ist wahr. Ich gehe jetzt, das ist der einfachste Weg, ich springe in die Leere, und dann bin ich erlöst. Ich wünsche mir als letztes Lied »Pictures of matchstick-men«, das hab ich gehört, als ich dreizehn war oder zwölf, das war ein Hit damals, und für mich ist es immer noch ein Hit, vielleicht waren die siebziger Jahre doch nicht so blöd, wie ich damals geglaubt hab. Ich hab meine Jugend einfach nicht verstanden. So wenig wie mein Erwachsensein. Trinkt tüchtig, wie es sich gehört, möge es nützen! Ich
Weitere Kostenlose Bücher