Die Erfindung des Abschieds /
die Vermisstenstelle, die Mordkommission und so weiter. Die Leute verwechseln das immer, die denken, alle Kommissariate sind hier im Präsidium untergebracht.«
»Was soll’n das heißen?«, rief Vogel. »Hab ich mich in der Tür geirrt oder was?«
»Sagen wir, Sie wurden falsch informiert«, sagte Jäger freundlich.
»Ich glaub, ich spinn!«
»Wir tun alles, was wir können, um Ihren Jungen zu finden«, sagte Jäger.
»Und warum ham Sie ihn dann noch nicht gefunden?«
Vogel umklammerte in der Jackentasche den Griff der Pistole und hätte am liebsten vor Zorn sämtliche Fensterscheiben zerschossen.
»Hast du gar keine Pistole als Polizist?«, fragte das Mädchen, das in einem roten durchsichtigen Kleid auf dem Bett saß und ihm zuschaute, wie er das Papierknäuel in die Innentasche seiner auf dem Stuhl liegenden Bomberjacke stopfte. Er hatte das Blatt gerade erst herausgezogen, glatt gestrichen, wie ein Geheimdossier überflogen und hastig wieder zusammengeknüllt.
»Leg dich doch hin und entspann dich! Warum bist du so nervös?«
»Ich bin nicht nervös«, sagte Martin Heuer, der nackt im Korbstuhl saß und nicht mehr wusste, wie er hierher gekommen war. Im Zimmer, das in trübes rotes Licht getaucht war, roch es süßlich, und von unten drang leise Musik herauf.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte das Mädchen, das Anfang zwanzig war, zierlich, und blau lackierte Zehennägel hatte. »Ich verrat dich nicht, wir haben öfter Leute von der Polizei hier, privat, mein ich. Die sind ganz normal, wie alle anderen.«
Hatte er ihr erzählt, dass er Polizist war? Warum?
»Du bist ganz schön dürr, du«, sagte das Mädchen. Dann rutschte sie vom Bett und zog ihr Kleid aus. Als sie sich zu Martin umdrehte, erschrak er.
»Was ist denn? Hey! Ist dir schlecht? Ich hab schon gemerkt, dass du was getrunken hast. Komm, trink noch einen Schluck Sekt!« Sie beugte sich zur Flasche, die in einem Eiskübel auf dem Nachttisch stand.
»Nein!«, keuchte er.
Sie bemerkte seinen Blick. »Jetzt starr mich doch nicht so an! Wir sind hier alle rasiert, das ist doch der Gag des Hauses! Max, unser Chef, meint, in einem Haus, das
Zur g’maaden Wiesn
heißt, müssen die Frauen rasiert sein. Das ist doch lustig, oder? Hast du noch nie eine rasierte Frau gesehen?«
Er war stumm vor Schreck. In der verschwommenen schwarzen Welt seiner Gedanken tauchte plötzlich das Bild einer Frau auf, die eine weiße Haut hatte und von unsterblicher Anmut war. Die Frau liegt in einem frisch bezogenen Bett, und sie ist nackt, hat keine Haare, an keiner Stelle ihres stillen steifen Körpers; und er, Martin, steht neben ihr und streckt seine Hand nach ihr aus, aber sie kann ihn nicht sehen, denn ihre Augen sind geschlossen, sie schläft, sie wacht nicht auf, weil die Ärzte das nicht wollen; sachte berührt er ihren Bauch, den die Ärzte aufschneiden werden. Das weiß er, obwohl er bloß ein Kind ist, und er kann seinen Blick nicht im Zaum halten, und so sieht er den haarlosen Ort, den er früher nie sehen durfte, aber er wusste, dass da Haare waren und noch mehr, und jetzt ist da nichts, und er hält seine Hand zwei Zentimeter flach über die Haut und flüstert: »Stärk stärk«, und fährt höher mit der Hand und flüstert wieder: »Stärk stärk«, und als der Arzt hereinkommt, erschrickt er und versteckt die Hand in der Hose.
»Hat nichts genützt, stärk stärk«, sagte er zu dem Mädchen, da hatte er schon wieder seine Hose an, sein Hemd und die Bomberjacke.
»Ich versteh dich nicht. Willst du schon gehen?«
»Muss gehen«, sagte er und schloss die Augen und blieb vor ihr stehen.
»Ist dir schlecht?«, fragte sie noch einmal.
Dann riss er die Augen auf und stürzte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, hinaus ins Freie, in den Hinterhof, wo die Müllcontainer standen.
Er fiel auf die Knie und bekreuzigte sich.
Der Pfeifenrauch neutralisierte den Rasierwassergeruch, der Süden den Atem raubte, und Süden war seinem Chef dankbar für dessen Sucht.
»Beruhige dich, Volker!«, sagte Funkel, sog an der Pfeife und kratzte sich an der Augenklappe. »Wir waren uns einig, dass Sonja mit Tabor redet, das hat sie getan, und er hat sich entschlossen, es noch einmal zu versuchen.«
»Ja«, sagte Thon, der sich hingesetzt und die Beine übereinander geschlagen hatte, so dass man seine blauen Seidensocken sehen konnte. »Ihr seid befreundet, und das geht mich auch nichts an. Ich leite eine Abteilung, und persönliche Dinge gehören
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