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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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nahm Martins knochige bleiche Hand, küsste sie und drückte sie an seine Wange.
    »Die Krone wartet auf dich«, sagte er und legte Martins Hände flach übereinander. »Geh, mein Freund!«
    Dann schwieg er, und alle um ihn herum schwiegen wie selbstverständlich ebenfalls.
    »Geh, mein Freund!«, wiederholte er und erhob sich.
    Er ging, begleitet von verstörten Blicken und dem Flüstern der Huren, zum Auto, wo er so lange im Dunkeln sitzen blieb, bis Sonja die Wagentür öffnete und einen Packen zerknüllter Blätter auf seinen Schoß legte.

9
    Der einfachste Weg
    D ie Sonne brannte so heftig, dass keiner von ihnen es länger als zehn Minuten auf der Liegewiese aushielt. Kopfüber stürzten sie sich in den Moorsee und schwammen so weit hinaus, wie sie konnten.
    An den Osterseen, knapp fünfzig Kilometer südlich von München, trafen sich alle, die an den anderen Badeorten in der Umgebung keinen Platz gefunden hatten; niemand störte sich daran, dass es hier kaum schattige Bäume und keinen Kiosk gab.
    Schon in ihrer Kindheit hatte Sonja die heißen Tage an diesem idyllischen Flecken verbracht, in diesem See hatte ihr Vater ihr das Schwimmen beigebracht; nachdem er gestorben war, setzte sie eine Hand voll Sonnenblumenkerne in die Erde, nahe am Ufer, und jedes Jahr schaute sie nach, ob eine Blume wuchs. Und die Blume gedieh prächtig. Als Sonja sie zum ersten Mal ihren beiden besten Freunden zeigte, tranken sie eine Flasche Champagner auf die blühende Sonne, und Martin sagte bei jedem Glas, mit dem sie anstießen, »Möge es nützen!«, weil er gelesen hatte, dass das
Prosit
auf Deutsch hieß.
    Seitdem fuhren sie regelmäßig im Sommer an die Osterseen, auch wenn Martin keine Lust dazu hatte. Er langweilte sich beim Schwimmen, und die Aussicht auf die Voralpenkette, die in der Ferne quer über den Horizont reichte und die ihm sein Freund als magischen Ort der Kraft verkaufen wollte, versetzte ihn in keinerlei Entzücken. Trotzdem waren es jedes Mal übermütige Ausflüge, bei denen sie keinen Gedanken an die Arbeit verschwendeten und nur sich selber gehörten, Federball spielten, Bier tranken, »Möge es nützen!«, sich im Wasser gegenseitig untertauchten und um Geld würfelten, wobei Sonja immer verlor und lautstark behauptete, die beiden Männer würden schummeln.
    Manchmal hing jeder nur seinen Gedanken nach, und sie redeten wenig, streckten sich auf ihren Bastmatten aus und ließen sich von der Sonne bräunen.
    Es war ein Sommertag wie viele andere, als Tabor einen Blick über den See warf, bevor er zurück ans Ufer schwamm, und da sah er Martin mit den Armen rudern und untertauchen. Tabor zögerte keinen Moment, kraulte mit ausholenden Bewegungen auf Martin zu, der nicht mehr zu sehen war, und tauchte nach ihm. Er packte ihn unter den Achseln und zog ihn an die Oberfläche. Martin war bewusstlos. Seinen Freund im Schlepptau, ruderte Tabor mit einem Arm ans Ufer, legte Martin vorsichtig ins Gras und begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung. Sonja, die herbeigelaufen kam, massierte sein Herz, und nach einer Minute schlug Martin die Augen auf, sein Kreislauf stabilisierte sich. Die Badegäste umringten ihn. Einige klatschten Beifall, als er, bleich und zittrig, aufstand und gequält lächelte. »Schwimmen ist echt Scheiße«, waren seine ersten Worte. Sonja drückte ihm einen Kuss auf den Mund, und Martin legte die Hand auf Tabors Nacken und murmelte: »Danke.« Und Tabor sagte: »Bitte.« Und dann ließen sie den Badespaß für diesmal sein, fuhren zurück nach München und gingen in einen Woody-Allen-Film, der »Verbrechen und andere Kleinigkeiten« hieß, und jedes Mal, wenn der kleine Mann mit der Brille auftauchte, mussten sie laut lachen; dabei war es gar nicht komisch, wie Martin Landau seine Geliebte umbringen ließ und daraufhin von Schuldgefühlen gepeinigt wurde und Angst vor der Strafe Gottes hatte. Die Augen Gottes sind überall, hieß es in dem Film, und es war das letzte Mal für lange Zeit, dass Sonja, Tabor und Martin gemeinsam im Kino waren.
    Der Unfall, der gut ausgegangen war, hatte ihre Beziehung verändert, ohne dass ihnen das zunächst bewusst geworden war; Sonja und Tabor trennten sich, blieben aber Freunde, und Martin fing an zu grübeln und einzelgängerisch zu werden, aber anders als Tabor: zerstörerisch, selbstzerstörerisch, freudlos. Und wenn die beiden anderen ehrlich waren, mussten sie zugeben, dass sie Martin nicht aufgehalten hatten, sie hatten ihn gehen und abtauchen lassen in

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