Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
belästigen lassen. Bloß weil meine Mutter damals abgehauen ist.«
    »Aus Berlin«, sagte Sonja.
    »Logisch aus Berlin, von wo denn sonst, Frau? Neunundvierzig im Mai nach der Blockade, da ist sie weg, mit dem Zug nach Hannover und dann runter nach Bayern, sie hatte da eine Schwester, zu der wollte sie, weil sie nicht mehr in Berlin bleiben wollte. Sie hat Angst vor den Russen gehabt. Vor den Kommunisten!«
    »Und Ihr Vater?«, fragte Sonja.
    Süden beugte sich noch weiter vor und ließ Anz nicht aus den Augen.
    »Wer soll das sein, mein Vater?«
    Im Schweigen, das jetzt folgte, rutschte Kommissar Rossbaum auf seinem Stuhl herum, weil er nicht verstand, warum Süden nicht endlich zur Sache kam und den Mann dazu brachte, das Versteck des Buben preiszugeben; für Kindheitsstorys fehlte Rossbaum der Nerv, und er glaubte auch nicht daran, dass der Psychokram, den er während seiner Ausbildung auf der Polizeischule büffeln musste, bei Typen wie diesem Anz von Nutzen war; seiner Meinung nach musste man solche Typen so lange in die Mangel nehmen, bis sie ihren Vornamen vergaßen und alles zugaben, was sie wussten; Nachgiebigkeit und Zuhören führten zu nichts, höchstens zu Überstunden und verstärktem Knurren im Magen.
    Sein Kollege Gobert verschränkte die Arme hinter der Stuhllehne und kam sich allmählich überflüssig vor; wozu hatten sie diesen Kerl überhaupt aufs Dezernat geschleift, wenn er jetzt schon wieder hier in seinem Wohnzimmer hockte und jeden mit seinem Sermon einlullte anstatt im Vernehmungszimmer Blut und Wasser zu schwitzen? Wahrscheinlich, überlegte Gobert, hatte der Selbstmord seines Freundes Hauptkommissar Süden so geschockt, dass er seine Arbeit noch nicht auf die Schiene brachte; wie er allerdings so dasaß mit seinem halb offenen Hemd, den Haaren, die ihm bis auf die Schulter fielen, und der ganzen Ausstrahlung eines verwegenen Polizisten, das fand Gobert cool, und er schätzte, dass dieser Anz damit zunehmend weniger klar kam und früher oder später den Mund aufmachen würde, er war ja auch schon gut dabei. Gobert nickte.
    »Ich kenn den Mann nicht«, sagte Anz.
    »Ihre Mutter ist also ohne Ihren Vater von Berlin nach Freising gekommen«, sagte Tabor Süden. »Warum?«
    »Fragen Sie sie.«
    »Wo lebt sie heute?«, fragte Sonja.
    »Gibt’s ’nen Himmel?«
    »Ihre Mutter ist tot?«, sagte Süden.
    »Mit Sicherheit.«
    »Und wo ist sie beerdigt? In Freising?«
    »Freising! Waren Sie mal in Freising?« Er schnellte nach vorn, stützte die Hände auf die Oberschenkel und sah Süden in die Augen. »Da möcht ich nicht begraben sein, da gehör ich nicht hin. Und meine Mutter auch nicht.«
    »Wann ist Ihre Mutter gestorben, Herr Anz?«, fragte Süden.
    »Keinen blassen Schimmer.« Er richtete sich auf, drückte die Arme durch und sah zum Fenster, wo Rossbaum und Gobert seinen Blick auf sich lenkten, indem sie ihn starr fixierten. »Meine Mutter ist nochmal abgehauen, wieder zurück nach Berlin, Westberlin, in den Sechzigern«, sagte er zu den beiden jungen Polizisten und schien ihren Blick nicht zu bemerken, er sah zu ihnen hin, als wären sie Statuen. »Das war mir doch egal, ich war da schon in München, hab meine Lehre als Dreher gemacht, Firma Berthold. Steht alles in Ihrem Computer, außerdem …«
    Abrupt verstummte er, sah Sonja an, die ihm zugehört hatte ohne mitzuschreiben, stand ruckartig auf und ging aus dem Zimmer. Sofort sprang Rossbaum auf. Doch noch bevor er den ersten Schritt gemacht hatte, gab ihm Süden ein Zeichen, sich wieder hinzusetzen. Irritiert blieb der Polizist stehen, tastete nach seiner Dienstwaffe, wollte etwas erwidern, das ihm dann aber nicht einfiel, und setzte sich wieder.
    Der Kassettenrecorder auf dem Tisch lief weiter.
    Sonja schlug die Beine übereinander, und es raschelte.
    Süden bewegte sich nicht, und Gobert beobachtete ihn.
    Rossbaum blickte finster zum Flur, wo Anz verschwunden war – und jetzt mit drei Bierflaschen auftauchte. Er setzte sich und ließ mit dem Daumen den Bügelverschluss der ersten Flasche aufspringen, wischte mit der flachen Hand über die Öffnung und trank. Schnelle, hastige Schlucke, und die vier Polizisten sahen ihm dabei zu. Als er die Flasche absetzte, war sie fast leer; er stellte sie auf den Tisch, genau neben die beiden anderen, und schmatzte.
    »Mein Vater«, sagte er und warf einen schnellen Blick auf Sonjas Rocksaum, »war ein Freund von diesem Pieck, der die SED gegründet hat, das war ein Kommunist, der Pieck, und

Weitere Kostenlose Bücher