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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hat meine Hand festgehalten, so gehalten.« Er ballte die Faust und bewegte den Arm auf und ab.
    »Was war das für ein Schild, vor das Sie sich hingestellt haben?«, fragte Sonja.
    »So ein grünes Schild, da stand drauf:
Treffpunkt für verlorene Kinder.
Das gibt’s heut nicht mehr, glaub ich, obwohl die Kinder ja immer noch verloren gehen im Tierpark. So ein Schild, das wäre wichtig; ob sie’s dann allerdings finden, wenn sie sich verlaufen haben, das bezweifel ich. Der Knirps hätt es nicht gefunden, da bin ich sicher, ohne mich wär der die ganze Zeit im Klo geblieben, und sie hätten ihn nicht gefunden. Irgendwann kam dann ein Wärter vorbei und hat uns gesehen. Wir standen ja unübersehbar da. Wir haben uns nicht hingesetzt, wir sind die ganze Zeit gestanden, wie bestellt und nicht abgeholt. Dann ist seine Mutter aufgetaucht, eine junge schöne Frau, das weiß ich noch, ich hab sie angeschaut wie einen Engel, und sie hat mir ein Stück Schokolade geschenkt, das war nett. Sie hat mich gefragt, ob ich allein im Zoo bin, und ich hab gesagt, mein Bruder kommt jeden Moment und holt mich ab. Ich hab aber keinen Bruder, jedenfalls keinen, von dem ich was weiß. Die Mutter war heilfroh, dass sie ihren Sohn wiederhatte. Als er sie gesehen hat, fing er an zu weinen, das war mir peinlich.«
    »Wieso?«
    »Weil man das nicht macht, in der Öffentlichkeit weinen, auch nicht als Kind.«
    »Hat Ihnen das Ihre Mutter beigebracht?«
    »Nein, das hab ich mir selber beigebracht.«
    »Und nach drei Tagen sind Sie wieder zurück nach Freising gefahren?«
    »Ich bin zur Polizei gegangen und hab gesagt, sie sollen mich heimbringen, das haben sie dann auch gemacht.«
    »Warum hat Ihr Freund Sie nicht wieder mitgenommen?«
    »Weil ich ihn nicht wieder gesehen hab. Ich hab nur einmal bei ihm übernachtet, als der Boxkampf im Fernsehen war, und dann hab ich im Englischen Garten übernachtet. Es war Sommer, zwanzig Grad in der Nacht, mindestens. Ich bin gern draußen, ich hör der Natur zu, da kann man was lernen.«
    »Was kann man da lernen?«, fragte Süden.
    »Dass alles seine Ordnung hat und seinen Zweck und dass kein Ding umsonst da ist. Und dass alles, was stirbt, wiederkommt, im nächsten Frühjahr, oder im übernächsten, nichts geht verloren. Das kann man da lernen.«
    »War Ihre Mutter böse mit Ihnen?«
    »Ja. Aber nicht ärger als sonst. Sie hatte immer was zu meckern. Sie hat mich ins Zimmer gesperrt und den Schlüssel abgezogen. Wir wohnten im dritten Stock, ich konnte also nicht aus dem Fenster klettern. Mir hat das nichts ausgemacht. Einmal am Tag hat sie mich rausgelassen, dann durfte ich aufs Klo gehen und was essen.«
    »Wie lange waren Sie eingesperrt?«
    »Eine Woche. Ich hab’s schade gefunden, dass es nur so kurz war. Ich war endlich mal für mich.«
    »Sind Sie später noch öfter in den Tierpark gegangen?«, fragte Sonja.
    »Ja, ich hab mich um die Kinder gekümmert, die von ihren Eltern weggelaufen sind. Das muss man verstehen, die schleppen ihre Kinder nicht in den Zoo, weil sie ihnen was Schönes zeigen wollen, sondern weil sie sich nicht mit ihnen beschäftigen wollen, die wollen sie nur los haben, deswegen gibt’s da heute auch die Spielplätze und das Streichelgehege und die Eisenbahn und was noch alles. Das ist doch alles nur Beutelschneiderei, und die Kinder langweilen sich. Und dann laufen sie weg. Das kann ich gut verstehen. Ich wär auch weggelaufen, wenn ich gewusst hätte, wohin. Erst als meine Mutter wieder nach Berlin, Westberlin, gezogen ist, hab ich gewusst, wo ich hin will. Nämlich nach München. Mit sechzehn bin ich weg.«
    »Warum hat Ihre Mutter Sie nicht nach Berlin mitgenommen?«
    »Fragen Sie sie!«
    August Anz ließ den Verschluss der dritten Bierflasche aufschnalzen und trank noch hastiger als bisher und hörte nicht auf, bis die Flasche leer war. Er schnaufte, schaute die Flasche an, wischte sich den Mund ab und schwieg.
    »Und heute ist Ihre Mutter tot?«, fragte Sonja. Das Herumgerutsche ihrer beiden Kollegen ging ihr auf die Nerven, sie konnte sie nicht sehen, weil sie mit dem Rücken zu ihnen saß, aber sie hörte jede Bewegung, jedes ungeduldige Strecken ihrer Beine und das dumpfe Pochen ihrer Finger auf der Stuhllehne.
    Anz verzog den Mund, blies in die Flasche – es gab einen hohlen Laut – und hielt sie schräg über den Tisch, so dass ein Rest Bier auf die Krümel tropfte.
    »Sie ist tot«, sagte er und stellte die Flasche hin, und der Verschlussbügel schlug klirrend

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