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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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wollte meine Wohnung noch aufräumen, komm nicht mehr dazu, die Wände antworten sowieso nicht mehr. Und, mein lieber Tabor, finde den kleinen Raphael, und wenn du es allein nicht schaffst, lass dir von Sonja und den anderen helfen, mach nicht alles allein! Es ist schwer genug, allein sterben zu müssen. Wenn ihr wüsstet, wie sehr ich mich hasse. Dafür, dass ihr alle heute so nah bei mir wart wie nie zuvor, danke ich euch. Ich würde euch winken, wenn ich noch wüsste, wie es geht. Verzeiht mir, oder auch nicht. Martin.«
     
    Dann knackte es in der Lautsprecheranlage, und E-Gitarren setzten ein.
    Doch bevor der Gesang anfing, erhob sich in der ersten Reihe ein korpulenter Mann, der neben Sonja Feyerabend saß, die ihr Gesicht hinter den Händen verbarg und auf der harten Bank kniete. Er ging nach vorne zum Altar, stellte sich neben Tabor Süden und gab dem Ministranten, der in der Tür zur Sakristei auf weitere Anweisungen wartete, ein Zeichen, die Musik noch einmal auszuschalten.
    Es war Paul Weber. Seine Hand zitterte, als er das Mikrofon zu sich drehte.
    »Ich möchte …« Er räusperte sich, sah Süden an, der ihm aufmunternd zunickte, und sprach leise weiter. »Ich möchte ein kurzes Gedicht vor … aufsagen, es war das Lieblingsgedicht meiner Frau, und heute möchte ich es unserem Freund Martin Heuer widmen, es ist ein kurzes Gedicht von … von einem tschechischen Dichter.«
    Er machte eine Pause und schloss die Augen. Dann trug er die Verse auswendig vor.
    »Die laubigen laubfrösche bitten laut
    der morgen stellt sich häufig taub und blind
    mit laub auf den stimmen mit zungen betaut
    für alle die im herzen barfuß sind.«
    Dann war es lange still. Und dann begannen die Gitarren und das Schlagzeug von neuem, und das Gotteshaus erzitterte vom unsterblichen Sound der siebziger Jahre.

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    Zweiter Teil
    10
    Treffpunkt für verlorene Kinder
    B evor er mit der Vernehmung von August Anz begann, setzte sich Tabor Süden auf den Boden im Wohnzimmer seines besten Freundes, der jetzt tot war, und schwieg.
    Eine Stunde verging, und die Geräusche, die hereindrangen, wurden weniger und waren bald verklungen. Irgendwo im Haus spielte jemand Blockflöte, wahrscheinlich ein Kind, immer dasselbe klägliche Lied, bis die Töne mittendrin abbrachen.
    Tabor Süden saß da, die Beine über Kreuz, die Hände gefaltet im Schoß, die Augen geschlossen, mit halb geöffnetem Mund, und hörte an den Rändern der Stille Martins Stimme.
    Er musste lächeln, als er das unverständliche Brummen wahrnahm. Wären seine Kollegen jetzt hier, sie würden ihn für einen Spinner halten, wie immer, wenn er sich unvermittelt abseits stellte und seltsame Dinge tat, die sie nicht verstanden. Sein Tanzen und Meditieren, seine Rituale mit den Tierknochen, die ihm als Kind der indianische Freund seines Vaters geschenkt hatte, sein Spiel auf der Trommel und die Art, wie er manchmal schaute – das alles war für ihn nichts anderes als ein Training für etwas, das er, nach den vielen Jahren, die er schon übte, noch immer nur vage verstand.
    In gewissen Nächten, wenn die Wände ihn wieder hämisch anstarrten, nannte er seine Tauchversuche in sich selber »die Kapriolen eines Mannes, der sich zu viel auf seine Einsamkeit einbildet und die Kontrolle über seinen Hormonhaushalt verloren hat«. Dann machte er mit seinem Getrampel und Geschrei das ganze Haus verrückt, und seine Nachbarin beschimpfte ihn am nächsten Morgen als rücksichtslosen Egoisten, der niemals Beamter beim Staat hätte werden dürfen. Es war seine Art, die Allgegenwart des Todes, seines eigenen Todes, zu ertragen; niemals wäre er auf die Idee gekommen, daraus eine Lehre für andere zu machen. Zum Guru, zu dem die Presse ihn hoch stilisiert hatte, taugte er nicht, dafür hatte er zu viel Angst vor sich selbst. Was er wollte, war, etwas über sich herauszufinden, um gelassener zu werden, größer beim Verschenken seiner Zeit.
    Die zwei Jahre, die er mit seinem Vater bei jenem Sioux-Schamanen verbracht hatte, waren der Anfang einer Lehre gewesen, die erst – soviel glaubte er inzwischen begriffen zu haben – auf seinem Sterbebett enden würde; und dann wollte er seinen Meister machen und die Prüfung bestehen. Seine Nachbarin und auch sein Vorgesetzter Volker Thon hatten Recht: Er hatte einen starken Hang zum Egoismus; aber er bemühte sich, die Leute, die sein Leben wie Nomaden durchzogen, so oft wie möglich als Gäste willkommen zu heißen; er war ein geselliger

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