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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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mein Vater war bei der Gründungsversammlung mit dabei, deswegen hat meine Mutter ihn nicht leiden mögen …«
    »Das interessiert uns nicht, Herr Anz«, sagte Süden, und Anz blieb der Mund offen stehen. »Sie haben bestimmt eine aufregende Familiengeschichte, die hat jeder, was uns interessiert ist, wann Sie das erste Mal von zu Hause weggelaufen sind und wohin, und was Ihre Mutter daraufhin getan hat. Wir können später über Ihren Vater sprechen, wenn Sie das möchten. Jetzt will ich wissen, wie alt Sie waren, als Sie das erste Mal allein und ohne Wissen von irgendjemandem Freising verlassen haben.«
    Anz schaute ihn an wie einen, der soeben eine große Gemeinheit von sich gegeben hatte. Gobert nickte, und Rossbaum zog die Augenbrauen hoch.
    »Von mir aus«, sagte Anz, griff zur Flasche und trank sie aus. Entploppte die zweite Flasche, rieb mit dem Daumen über die Öffnung und nahm einen Schluck. »Sie haben mich gefragt, und ich hab Ihnen geantwortet, ich bin ein höflicher Mensch.«
    »Sie sind höflich, wenn Sie höflich sein wollen«, sagte Süden.
    »Das ist wahr, Herr Kommissar.« Anz trank und behielt die Flasche in der Hand. »Es zahlt sich nicht aus, ständig höflich zu sein. Nicht in diesen Zeiten. Nicht in dieser Stadt. Sie wollen wissen, wann ich das erste Mal abgehauen bin? Kein Problem. Mit elf. Ich hab einen Freund gehabt, der war älter als ich, der hatte ein Moped, der hat mich mitgenommen. Wir sind nach München gefahren und haben uns bei Verwandten von meinem Freund die Olympischen Spiele angeschaut, die hatten nämlich einen Fernseher. Die waren in Rom, die Spiele, und ein Deutscher hat eine Medaille beim Boxen gewonnen, seinen Namen hab ich vergessen.«
    »Und wie lange waren Sie damals in München?«, fragte Süden und veränderte zum ersten Mal seine Haltung; er legte die Hände flach auf den Tisch, und es sah aus, als ob er jeden Moment aufstehen wolle.
    »Drei Tage.«
    »Und Ihre Mutter hatte keine Ahnung, wo Sie waren?«
    »Nein. Sie hat in einer Bäckerei gearbeitet, fünfzehn Stunden, sie hatte sowieso keine Zeit für mich.«
    »Hat sie die Polizei alarmiert?«
    »Nein, sie hat von den Eltern meines Freundes erfahren, wo ich war, und das hat ihr genügt. Sie konnte mich ja nicht holen kommen, weil sie arbeiten musste. Praktisch, stimmt’s?« Wie ein Verdurstender kippte er das Bier in sich hinein, holte Luft, hielt die leere Flasche schräg an den Mund und klopfte auf die Unterseite, um keinen Tropfen zu verschenken. Dann stellte er die Flasche akkurat neben die, die er bereits ausgetrunken hatte, betrachtete die dritte, umklammerte sie mit beiden Händen und drehte sie. »Ich bin in den Tierpark gegangen, hab mir die Affen angesehen und die Fische, da waren wenig Leute unterwegs, das war schön. Der Zoo war damals ein richtiger Park, keine Betonklötze und Kinderspielplätze so wie heute. Ich hab den ganzen Tag da verbracht. Allein.«
    »Waren Sie gern allein?«, fragte Süden.
    »Natürlich, aber nur freiwillig. Ich will allein sein, wenn ich allein sein will und nicht, wenn mich jemand dazu zwingt, verstehen Sie das? Das ist ein großer Unterschied. Ich hab sogar einen kleinen Jungen gerettet. Steht das nicht in Ihrem Computer? Ist schon zu lange her, daran erinnert sich niemand mehr.«
    »Was war mit dem Jungen?«, fragte Sonja, und Süden nahm wieder seine alte Stellung ein, faltete die Hände, beugte sich vor, und das Amulett an seinem Hals glänzte im weißen Licht der fünfarmigen Lampe, die an der Decke hing.
    »Der hat sich verlaufen, und aus Angst hat er sich in der öffentlichen Toilette versteckt. Seine Mutter hat einen hysterischen Anfall gekriegt und alle Wärter zusammengetrommelt, die haben ihn dann gesucht. Aber ich hatte ihn ja schon gefunden, ich war im Klo, da stand er auf einmal neben mir und hat geheult. Ganz still vor sich hin geheult. Nicht laut, wie andere Kinder, ganz still. Ich hab ihn gefragt, wie er heißt, er hat nichts gesagt, er war vielleicht sechs. Ich wollte schon wieder gehen, weil was hätte ich mit ihm anfangen sollen, da hat er mich an der Hand gepackt. Fand ich blöd. Er hat aber nicht mehr losgelassen. Also sind wir aus dem Klo raus und zusammen weitergegangen. Ich hab mich an ein Schild erinnert, das ich beim Eingang gesehen hab, und da sind wir hin. Da haben wir uns dann hingestellt und gewartet. Er hat die ganze Zeit meine Hand gehalten, vielleicht hat er gedacht, ich wär sein Bruder. Ich bin mir vorgekommen wie angekettet. Aber er

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