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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Einzelgänger, der nicht mit Freundschaft handelte; er warf niemandem Abwesenheit vor und verlangte, selber abwesend sein zu dürfen.
    So hatte er sich die Freiheit genommen, weg zu sein, während sein bester Freund vor Leere zerbarst.
    Dieser Gedanke drückte ihm jetzt den Kopf auf die Brust und schnitt ihm die Luft ab. Auf seinem Hemd, weiß wie eine Leinwand, sah er einen chaotischen Film ablaufen, eine Geschichte mit Martin als Protagonisten, der sich plötzlich in ihn, Süden, verwandelte, und dann in Sonja und schließlich wieder in sich selbst, in die dürre, schwitzende Gestalt, die einen türkisfarbenen Panzer aus Polyester trug und auf der Flucht war vor einem Mann, der sie mit aller Macht verfolgte. Dieser Mann war ihm unheimlich, denn er begriff, er war es selbst, und das jagte ihm noch mehr Angst ein, trieb ihn durch schlecht beleuchtete Hinterzimmer, in denen er sein Geld ausgab und die Orientierung verlor. Später schrieb er hastig Briefe und steckte sie in Kuverts, die er nicht zuklebte. Immer wieder tauchte darin dieses Wort auf, wie eine Beschwörung:
Teufel,
und er meinte damit sich selber ebenso wie Süden, Sonja, Funkel und die anderen, von denen er sich verfolgt fühlte und denen er nicht entkam. Er rannte, raste, der Boden unter seinen Füßen brannte, er schwitzte und hustete und ruderte mit den Armen, und niemand nahm ihn wahr.
    Als Süden aufschaute, riss der Film. Er war allein in der Wohnung, und es war Abend; wenig Licht, und vor dem schmutzigen Fenster dünner Regen und Wind.
    »Wir sind beide davongelaufen«, sagte Süden in die Stille, zur offenen Tür, die in den Flur hinausführte, »und ich nehme deinen Abschied an. Aber beklag dich nicht, wenn du in deinem nächsten Leben dauernd Kopfschmerzen hast! Deine Briefe werd ich lesen, wenn ich Rat brauche, und das wird oft sein. Deine Schulden bei Lilo, die bei deiner Beerdigung ausufernd geheult hat, hab ich bezahlt. Sie hat mir gezeigt, durch welches Fenster du getürmt bist. Wieso du dir Bücher über Spiritismus gekauft hast, würd ich gern wissen, und ich wollte sie schon wegwerfen, aber Sonja hat’s mir verboten. Wolltest du dir damit etwas beweisen? Was, Martin? Mit dem Satz in einem deiner Briefe, ›Meine Fasern haben aufgehört zu leuchten‹, werde ich dich noch zur Rede stellen. Wo hast du das abgeschrieben und wozu? Welchen Geistern bist du auf den Leim gegangen, mein Freund? Die Verzweiflung ist ein gefährlicher Ratgeber. Übrigens hätten wir beinah Probleme gehabt, dich angemessen unter die Erde zu bringen, weil der Pfarrer sich zuerst weigerte, die Messe für einen zu lesen, der sich umgebracht hat; in der Satzung deines Vereins kommt Selbstmord nicht vor.«
    Dann erhob sich Süden, streckte die Arme weit von sich, legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei aus, so laut und lang, dass die Nachbarn ihre Fernseher leiser stellten und erschrocken an den Wänden lauschten.
     
    Nach jeder dritten Antwort des Mannes, den sie für einen Kidnapper hielten, warfen sich die beiden jungen Kommissare Rossbaum und Gobert einen verschwörerischen Blick zu und dachten das Gleiche: Dich kriegen wir, Amigo, in zehn Minuten bist du platt!
    Eine halbe Stunde dauerte die Vernehmung nun schon, und August Emanuel Anz vermittelte nicht den Eindruck, als wolle er Hauptkommissar Süden, der ihm gegenübersaß und merkwürdige Fragen stellte, und Hauptkommissarin Feyerabend, die sich auf einem kleinen Block Notizen machte, irgendetwas verschweigen. Wenn er zögerte, dann deshalb, weil er die Frage nicht auf Anhieb verstand und darüber nachdachte, ob man ihn aufs Glatteis führen wolle – und dafür, das hatte sich Anz geschworen, hatte er die Bullen nicht in seine Wohnung gelassen, freiwillig und mit der überaus freundlichen Einladung zu Kaffee und Plätzchen.
    Anz hatte wieder nach Hause gehen dürfen, weil die Polizisten ihm kein Vergehen nachweisen konnten, außer dass er das Auftauchen des Jungen nicht gemeldet hatte, was nicht strafbar war.
    Jetzt saßen sie zu dritt an seinem Wohnzimmertisch und hatten Tassen vor sich stehen, in der Mitte einen Teller mit Spekulatius, die niemand anrührte. Die zwei jungen Polizisten hatten am Fenster Platz genommen und nichts zu sagen, was Anz besonders freute, weil sie es gewesen waren, die ihn aufs Revier geschleppt und ihm dabei fast das Handgelenk verstaucht hatten vor lauter Aggressivität und Eifer; solche Polizisten schüchterten ihn am wenigsten ein, gefährlicher waren so Typen wie

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