Die Erfindung des Abschieds /
gegen das Glas.
»Wann ist sie gestorben?«, fragte Süden.
»Weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie tot ist.«
»Und sie hat Sie damals einfach sitzen lassen? Was genau ist denn passiert?«, fragte Sonja. Wenn das Scharren in ihrem Rücken nicht bald aufhörte, würde sie herumfahren und den beiden verbieten, auch nur mit den Zehen zu wackeln.
»Was da passiert ist? Das wollen Sie wissen, Frau Kommissarin? Was da passiert ist? Gute Frage, passen Sie mal auf, ich kann Ihnen das detailliert erklären, was da passiert ist. Kein Problem für mich. Ich bin in der Früh aufgestanden und in die Küche gegangen, es war Sonntag, heiliger Sonntag, ich geh zum Kühlschrank, weil ich nämlich Durst hatte, Mordsdurst, wir haben gefeiert am Abend vorher, den fünfzehnten Geburtstag von einem Freund von mir, damals hatte ich nämlich noch Freunde, ich geh also zum Kühlschrank, und da seh ich einen Zettel auf dem Tisch liegen, so groß, DIN A4, und ich beug mich drüber und les, was da steht. Und da steht, dass meine Mutter in der Nacht mit diesem Kurt, das war ihr Liebhaber, abgehauen ist, und zwar nach Berlin, und da steht auch, dass ich mir keine Sorgen machen soll, denn meine Tante und mein Onkel würden schon auf mich aufpassen. Und ich soll nicht zur Polizei gehen, und es tut ihr alles so Leid. Stand auch da. Und unten waren zwei Hundertmarkscheine hingeklebt. Und außerdem stand da, dass sie mich liebt, ich liebe dich, stand da am Schluss. Ich hab die Geldscheine abgemacht und den Brief zerrissen. Und als ich mich umdreh, steht meine Tante Vroni hinter mir, sie hat nämlich in Mutters Bett geschlafen, sie war jetzt meine Mutter. So war das, Frau Kommissarin, präzise genug? Ich bin nicht zur Polizei gegangen, ich zeig doch nicht meine eigene Mutter an.«
»Waren Sie nicht wütend auf sie? Haben Sie sie nicht gehasst für das, was sie Ihnen angetan hat?«, fragte Süden.
»Doch. Aber ich hätt sie genauso gehasst, wenn ich zur Polizei gegangen wär, was wär da anders gewesen? Ich blieb bei meiner Tante Vroni und meinem Onkel Bernd, der ein Installationsgeschäft hatte. Er war ein erfolgreicher Unternehmer, er hatte Geld, das war wichtig für meine Mutter, wir hatten ja kein Geld, sie verdiente nur ein paar Zerquetschte in der Bäckerei, das war eine einzige Plackerei. So, und jetzt will ich darüber nicht mehr sprechen.«
Er stand auf, strich sich die Hose glatt und blieb steif stehen.
»Hat das Jugendamt nicht auf das Verschwinden Ihrer Mutter reagiert?«, fragte Sonja und biss sich auf die Unterlippe, was ein Zeichen drohenden Unheils war.
»Wieso denn? Ich war ja versorgt, ich war sechzehn, ich hab die mittlere Reife gemacht, und das war’s dann mit meiner Karriere als Schüler.«
»Kollegen, würden Sie sich bitte ruhig verhalten, wir führen hier ein ernstes Gespräch, danke«, sagte Sonja. Ohne sich umzudrehen. Anz blickte sie verwirrt an, und Süden schickte einen Blick in Richtung seiner Kollegen am Fenster, die für einen Augenblick gehorsam erstarrten.
Anz beugte sich zum Tisch hinunter, schob die drei Flaschen eng zusammen und presste sie zwischen die Hände. Bevor er sich wieder aufrichtete, fragte ihn Süden: »Warum hat Ihre Mutter Sie von heut auf morgen verlassen? Warum hat sie das getan?«
Es klirrte, die Verschlüsse der Flaschen berührten sich, während Anz den Tisch anschaute, dann Süden – ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt –, bis er sich schließlich einen Ruck gab und mit staksendem Gang das Wohnzimmer verließ, die Flaschen an die Brust gepresst.
»Haben Sie noch etwas Geduld!«, sagte Süden zu Rossbaum und Gobert, stand ebenfalls auf und ging hinaus, obwohl Sonja gerade etwas erwidern wollte; verärgert klatschte sie in die Hände und schüttelte den Kopf. Und schaltete mechanisch den Kassettenrecorder ab.
In der Küche stellte Anz die Flaschen in den Kasten, der unter dem Tisch an der Schmalseite stand, dort, wo normalerweise der Stuhl leer blieb. Er holte eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank, der ihm plötzlich überkühlt vorkam. Er schaltete den Thermostat eine halbe Stufe runter und setzte sich an den Tisch, mit dem Rücken zur Tür, durch die Süden hereinkam.
Minutenlang schwiegen die beiden Männer.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Anz. Der Kommissar setzte sich ihm gegenüber, dorthin, wo gewöhnlich freie Sicht auf die Wand war. »Da hockt normalerweise der Hase«, sagte Anz und grinste, »aber heut hat er Ausgang …« Er
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