Die Erfindung des Abschieds /
der Langhaarige mit der Lederschnur um den Hals und diesen Blicken, die einem das Hirn versengten, wenn man zu lange hinschaute.
Anz wandte den Kopf ab, blickte zum Fenster, nahm sich ein Plätzchen und brach es in zwei Teile, die er in der Hand behielt, ohne sie zu essen. Dann legte er sie nebeneinander vor sich hin und überlegte, was der Polizist mit der Frage meinte, die er soeben gestellt hatte.
»Sind Sie als Kind manchmal von jemandem vermisst worden?«
Tabor Süden saß vornübergebeugt auf der Couch, Arme auf den Oberschenkeln, Hände gefaltet, und schien keine Eile zu haben. Er trug ein weißes, weitgeschnittenes Hemd, dessen obere Knöpfe offen waren, und man sah das Amulett mit dem eingravierten Adler am dünnen Lederband. Wie immer bei Vernehmungen hatte er die Ärmel hochgekrempelt; er trug keine Armbanduhr – als Einziger im Dezernat wusste er nie, wie spät es war.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Anz. In diesem Moment schaute Gobert auf seine klobige schwarze Taucheruhr: Es war zwölf Uhr zweiundzwanzig, er brauchte langsam was zwischen die Kiemen. Er sah seinen Kollegen an, und der dachte dasselbe.
»Haben Sie als Kind jemandem Anlass gegeben, Sie zu vermissen, zum Beispiel, indem Sie plötzlich verschwanden, aus welchen Gründen auch immer«, sagte Sonja Feyerabend, die in einem unbequemen rotbraunen Sessel saß, über dessen Lehne sie ihr Cape gelegt hatte. Sie trug einen grauen Pullover und einen dunkelblauen Rock, der knapp unterhalb der Knie endete und dessen Saum Anz unauffällig, wie er glaubte, im Auge behielt, wenn Sonja die Beine übereinander schlug; was sie mehrmals tat, weil sie keinen Halt in dem weichen Sessel fand.
Dass sie genauso kurze Haare hatte wie er – allerdings waren seine graubraun –, fand Anz komisch und hatte ihn im Dezernat zu der Bemerkung veranlasst: »Wir beide verstehen was vom Haarschnitt der Jahrtausendwende!« Dabei hatte er grinsend die Nase hochgezogen und die obere Reihe seiner gelben, schrägen Zähne entblößt.
»Ich war immer brav«, sagte er und passte auf, ob sich der Saum ihres Rockes, während sie den Satz notierte – oder was immer sie schrieb, er konnte es auf die Entfernung nicht erkennen – womöglich um ein paar Millimeter verschob.
»Kein Kind ist immer brav«, sagte Süden.
»Ich war’s schon.«
»Auch Sie nicht«, sagte Sonja und erwischte Anz beim Hersehen, indem sie blitzschnell den Kopf hob. Er war so verdattert, dass er ihren Blick erwiderte und zu blinzeln vergaß. »Wann sind Sie zum ersten Mal abgehauen, ohne ihrer Mutter Bescheid zu sagen?«
»Nie«, sagte er. Dann gab er einen heiseren Laut von sich, drehte den Kopf zur Seite und hustete eine vergilbte Topfpflanze an, von der ein dürres Blatt abbrach und zu Boden fiel. Anz betrachtete es versonnen, schickte noch einen Windstoß Husten hinterher, so dass das Blatt auf dem Teppich erzitterte, und stieß einen schweren Seufzer aus. »Das Wetter macht mich kaputt, ich bin auf Sommer gepolt, Sie nicht?« Er sah erst Sonja an, dann Süden und nickte. »Ich schon. Der Mensch braucht einen Rhythmus, genauso wie die Natur.« Mit einem letzten, gedankenvollen Blick auf den ausgemergelten Pflanzenrest, der neben seinen Hausschuhen gelandet war, erhob er sich, strich die Hosenbeine glatt, griff mit den Daumen in den Gürtel und zog die Hose hoch. Er blickte in die Runde, setzte sich wieder, nahm einen Spekulatius vom Teller, steckte ihn sich in den Mund und kaute knisternd.
»Ein Jahr ohne Sommer kann ich nicht leiden«, sagte Anz und pulte mit der Zunge Krümel aus einem Zahnloch.
»Hat Ihre Mutter Sie von der Polizei suchen lassen, nachdem Sie abgehauen waren?«, fragte Süden.
»Nein«, sagte Anz mürrisch.
»Wieso denn nicht?«, fragte Sonja.
»Die ist doch selber abgehauen, steht das nicht in Ihrem Computer?«
»Da steht, dass Sie in Freising geboren wurden«, sagte Süden, »und dass Sie da aufgewachsen sind. Von wo ist Ihre Mutter denn abgehauen?«
»Sie haben keinen Schimmer und sind bei der Polizei, das ist ein Witz!« Er lehnte sich zurück, spreizte die Beine, die in abgewetzten grauen Cordhosen steckten, bohrte mit der Zunge in den Backen und sah Süden ins Gesicht. »Ich bin in Freising geboren, na und? In Freising werden dauernd Leute geboren, na und? Ich hab mir das nicht ausgesucht, dieses beschissene Kaff, ich bin eigentlich Berliner! Ich bin ein Kind der Großstadt, und wo bin ich jetzt? Hier in dieser beschissenen Bude und muss mich von Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher