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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hämmerte mit der flachen Hand auf die Flaschenöffnung, »er geht seinem Hobby nach.« Grinsend trank er und zeigte mit der Flasche auf Süden. »Ich will jetzt nicht mehr reden«, sagte er dann.
    »Doch«, sagte Süden, »tun Sie es! Ich bin da. Solange Sie wollen, den ganzen Tag, die ganze Nacht, immer.«
    »Nein.«
    »Fangen Sie an!«
    »Nein.«
    »Erzählen Sie mir von der Liebe Ihrer Mutter.«
    »Das geht Sie nichts an.«
    »Erzählen Sie es trotzdem, niemand wird davon erfahren. Wir sind allein hier.«
    »Sie haben Ihre Kollegen vergessen, die lauern da drüben auf mich.«
    »Lassen Sie sie lauern! Lauern kann dauern.«
    »Lauern kann dauern?«
    »Etwa nicht?«
    »Sie sind ein merkwürdiger Polizist. Ist Ihr Name wirklich Süden?«
    »Ja. So, wie Ihrer Anz.«
    »Anz ist ein simpler Name, den kann jeder haben. Aber Süden …«
    »Hieß Ihr Vater Anz?«
    »Nein.«
    »Dann ist das der Mädchenname Ihrer Mutter?«
    »Waltraud Anz. Geboren in Dresden, am zwölften April 1927. Ihr Vater hatte ein Sägewerk. Aber sie wollte keine Holzsägerin werden, sie wollte Schauspielerin werden, so eine wie Ingrid Bergman, oder wenigstens wie Lilian Harvey. Sie wollte nach Berlin gehen, ans Theater, und dann zum Film. Als sie alt genug dazu gewesen wäre, war Krieg. Ihr Bruder ist in Russland gefallen, jedenfalls ist er nicht zurückgekommen aus dem Wahnsinn, es hieß, er sei tot, aber es gab keine Sterbeurkunde, die war angeblich verloren gegangen. So was passiert, wenn Krieg ist. Dreiundvierzig ist sie nach Berlin abgehauen, mit einem Mann, er war achtzehn und Jude, der hat sich im Sägewerk versteckt. Ihr Vater hatte nichts dagegen. Hat sie gesagt. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Ihr Vater war ein Nazi, ein aufrechter Arier, ich glaub nicht, dass der den Juden versteckt hat, ich glaub, dass der nichts davon gewusst hat, was meine Mutter da gemacht hat. Als Dresden dann fünfundvierzig verbrannt ist, war sie in einem Wald an der Ostsee, dahin ist sie mit ihrem Liebhaber und noch zwei Männern geflüchtet, sie war nicht da, als ihre Heimatstadt in Flammen aufging, und so ein Sägewerk brennt ja besonders gut, oder nicht? Sie war nicht da. Ihre Eltern sind verbrannt, ihr Elternhaus, ihre Freunde, alle ihre Angehörigen, keiner ist davongekommen. Sie hat’s überlebt. Weil sie rechtzeitig weggegangen ist. Das ist das Glück. Sie hat mir ein paar Mal davon erzählt, wie das war in den Bunkern und dann auf der Flucht, in der Nacht, und dann im Wald, immer im Dunkeln, man konnte nie raus, sie hatten Angst vor jedem Geräusch, Tag und Nacht. Haben Sie Angst im Dunkeln? Sie bestimmt nicht, Sie sind ja Polizist.«
    »Ich hab Angst im Dunkeln«, sagte Süden.
    »Und was machen Sie dagegen?«
    »Ich singe. Oder ich schaue so lange in die Dunkelheit, bis ich was erkennen kann.«
    »Und wenn da nichts ist?«
    »Es ist immer was da.«
    »Keine Gebete?«
    »Sie meinen, ob ich zu Gott bete?«
    »Zu wem denn sonst?«
    »Gott ist die Dunkelheit, was soll ich da zu ihm beten? Er ist ja da.«
    »So gesehen … Ich hab das geerbt, die Angst vor der Dunkelheit. Meine Mutter musste nachts immer das Licht anlassen, als ich ein Baby war, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, sie hat’s mir erzählt. Sie hat mich getröstet, dafür bin ich ihr dankbar. Andererseits hat sie mich dauernd allein gelassen. Sie war eine undurchschaubare Frau.«
    »Sie haben gesagt, alle Verwandten Ihrer Mutter wären in Dresden gestorben. Aber die Frau in Freising haben Sie Tante genannt.«
    »Sie war eine Stiefschwester. Der Vater meiner Mutter hatte eine Affäre mit einem Mädchen, das dann zurück nach Bayern gegangen ist. Meine Tante hat ihren Vater nie kennen gelernt. Genauso wenig wie ich meinen Vater. Er war in der SED und ein Freund von diesem Pieck, das weiß ich, und das ist alles. Wir sind lauter Krüppel, Familienkrüppel, keiner gehört zum anderen, wir tun nur so, wir sind alle für uns allein, das ist die Wahrheit, und die muss man akzeptieren, sonst dreht man durch. Warum setzen solche Leute Kinder in die Welt? Die dann weglaufen müssen, damit sie überleben. Wie meine Mutter. Wäre sie nicht weggelaufen, wäre sie verbrannt. Und ich wäre nicht geboren worden, und alles wäre in Ordnung.«
    Er verstummte und sah Süden an, der mit gefalteten Händen dasaß, gebückt, ein heimisch gewordener Fremder ohne Hast und Hinterlist.
    »Ich war nicht traurig, als ich das Blatt auf dem Küchentisch fand, es kam mir gar nicht überraschend vor, nicht,

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