Die Erfindung des Abschieds /
dass ich damit gerechnet hätte, aber ich wollte ja selber weggehen, abhauen aus dieser Kleinstadt, ich hab ja selber dauernd überlegt, wie ich das am besten anstell. Und dann kommt sie mir zuvor, das war eigentlich gut so, denn so hatte ich keine Verpflichtung mehr, ich brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, was sie wohl denken würd, wenn ich plötzlich weg wär. So wie damals, als ich im Tierpark war.«
»Sie haben die weggelaufenen Kinder zu ihren Eltern zurückgebracht«, sagte Süden und ignorierte die Kälte, die ihm die entblößten Arme hinaufkroch.
»Da gehören sie ja auch hin«, sagte Anz.
»Ist mit dem kleinen Raphael alles okay?«
Anz schaute die Bierflasche an.
»Es ist gut, dass er an Sie geraten ist und nicht an jemand anderen«, sagte Süden. »Bei Ihnen hat er nichts zu befürchten.«
»Ganz genau!«, sagte Anz.
»Wo ist er?«
Vermutlich passierte an der Decke ein fantastisches unsichtbares Ereignis, denn Anz brachte seinen Blick nicht mehr davon los.
Mit den Sandalen, an denen die Verschlüsse abgerissen waren, humpelte er durch die Wohnung, versuchte, schneller zu laufen, verlor einen Schuh, musste stehen bleiben, zwei Schritte zurück machen und den Schuh überstreifen; auf die Idee, in Strümpfen zu laufen, kam er nicht. Als der Junge zum dritten Mal in entgegengesetzter Richtung an ihm vorbeihuschen wollte, packte er ihn an der Schulter.
»Du bist gemein!«, schrie Raphael und krallte seine Finger in die Pranke, mit der Frank Oberfellner ihn festhielt.
»Du bleibst jetzt stehen und hörst mir zu«, keuchte er. Die Trainingshose hing ihm halb über den Hintern, und das ausgebleichte grüne Oberhemd hatte er falsch zugeknöpft; seit der Junge bei ihm in der Wohnung war, geriet seine Einsiedelei aus den Fugen.
»Du stinkst! Du stinkst!«, rief Raphael und zerrte am Arm des Mannes.
»Ich hab das doch nicht so gemeint, Raphael …«
»Doch! Lass mich los!«
Raphael stieß einen Schrei aus und Oberfellner ließ sofort los. Wenn die Nachbarn etwas mitkriegten, wäre er ein toter Mann, Anz würde ihn eigenhändig erwürgen.
»Bitte, Raphael, du darfst doch hier bleiben, ich schick dich doch nicht weg. Ich hab doch nur gemeint … ich hab dir doch gesagt, wieso …«
Wo war der Kleine? Im Schlafzimmer steckte er nicht, im Badezimmer nicht, in der Küche … In Panik lief Oberfellner los, die linke Sandale rutschte ihm wieder vom Fuß, er stolperte, stützte sich an der Wand ab, streckte das Bein aus und fingerte mit den Zehen nach der Sandale, was nicht klappte, und als ihm endlich klar wurde, dass er Wollsocken trug und nirgends spitze Nägel herumlagen, hörte er den Schlüssel in der Tür.
Raphael hatte aus der Abstellkammer seinen Rucksack geholt und war jetzt kurz davor, die Wohnung zu verlassen.
»Bleib da!« Oberfellner lief zu ihm, hob ihn hoch, drückte ihn mitsamt dem Rucksack an sich, machte kehrt und beförderte ihn durch den Gang ins Schlafzimmer, wo er ihn wie ein Bündel Kleider aufs Bett warf. »Du bleibst jetzt da, wenn ich das sage, verstanden!« Vier virtuose Sekunden lang streckte Oberfellner die Brust raus und genoss seinen Triumph als Autorität. Dann hechtete Raphael aus dem Bett und flitzte an ihm vorbei die Strecke zurück zur Tür.
»Du unverschämter Bengel!«
Er streifte die zweite Sandale ab und rannte hinter ihm her.
Raphael riss die Tür auf. Oberfellner war ihm dicht auf den Fersen. Im Rennwind segelte ein Hut vom Kleiderständer und wirbelte Staub auf. Den Rucksack über die Schulter geworfen, machte Raphael hastig einen Schritt ins Treppenhaus – und prallte zurück.
Eine schwarze Vogelscheuche versperrte ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg. Erschrocken blickte er an ihr empor, in ihr breites, Furcht einflößendes Gesicht voller Furchen und Bartstoppeln. Auf dem Kopf thronte ein schwarzer steifer Hut, und der voluminöse Mantel roch nach Mottenkugeln.
Raphael drückte sich an die Wand und atmete heftig.
Reglos stand die Gestalt da, und Oberfellner, der einen Kopf kleiner war als sie, nötigte sich das Lächeln eines Todgeweihten ab, der dem Löwen wenigstens auf verrückte Weise Paroli bieten wollte. Und der Löwe lächelte ebenfalls.
»Heute mal Sport treiben, Herr Oberfellner?«
Fasziniert sah Raphael dabei zu, wie sich der dünne Mund in dem steinernen Gesicht bewegte. »Für einen Hundertmeterlauf ist ihr Flur aber wohl zu kurz.«
»Ja«, sagte Oberfellner heiser. Er war neunundfünfzig Jahre alt und er geriet immer
Weitere Kostenlose Bücher