Die Erfindung des Lebens: Roman
Köln zahlten wir Miete, doch auf dem Land bewohnten wir inzwischen das kleine Einfamilienhaus auf der Höhe, um dessen Gärten sich meine Mutter mit besonderer Hingabe kümmerte.
Als sie hörte, dass in der ländlichen Ortsbücherei, in der sie ihren Beruf als Bibliothekarin erlernt hatte, die Stelle der Leiterin neu besetzt werden sollte, spielte sie sofort mit dem Gedanken, sich zu bewerben. Eine Weile sprach sie von der sich plötzlich eröffnenden Chance, genau dort wieder zu arbeiten, wo sie als junge Frau gearbeitet hatte, sogar mit einer Freude, als wäre unsere endgültige Übersiedlung aufs Land bereits beschlossene Sache.
Vielleicht waren es Mutters Schwung und ihre damit verbundene gute Laune, die auch Vater über seine Arbeit nachdenken ließen. Warum machte er sich nicht auf dem Land selbständig und eröffnete dort sein eigenes Büro? Im Grunde hatte er das bereits vor dem Krieg tun wollen, es sich aber in jungen Jahren wegen mangelnder Berufserfahrung noch nicht zu tun getraut. Jetzt aber war anscheinend der Zeitpunkt dafür gekommen, und diesen Zeitpunkt galt es zu nutzen.
Meine Eltern spürten das Verlockende all dieser neuen Perspektiven, und die Gespräche darüber in unserer Kölner Küche führten regelrecht zu einer Aufbruchsstimmung. Nur ich konnte sie nicht recht genießen, weil ich unsicher war, ob die Einschulung in ein Internat auch für mich eine Verbesserung darstellte. Dass ich jedoch auf dem Land kein Gymnasium besuchen konnte, das stand fest, denn auf dem Land gab es kein Gymnasium mit einer besonderen Förderung musisch begabter Schüler.
In den Planungen und Gedanken der Familie lief also alles immer entschiedener auf den endgültigen Umzug aufs Land und auf ein neues Berufsleben meiner Eltern zu. Ich sah meine Mutter bereits vor mir, wie sie jeden Morgen zu der Bücherei direkt gegenüber der alten Pfarrkirche aufbrechen würde, wo noch immer ein Jugendfoto von ihr neben der Eingangstür hing, und ich konnte mir auch meinen Vater gut vorstellen, wie er am Morgen mit seinen rot-weißen Vermessungsstäben und einem Theodolit loszog, um für die Bauern in der Umgebung Grundstücke und Felder zu vermessen.
Während ich mir das alles jedoch vorstellte, spürte ich, dass ich in den elterlichen Planungen nicht mehr so vorkam wie früher. Früher hatte man alles an meinem Befinden und dem Befinden meiner Mutter ausgerichtet, jetzt aber, wo es uns besser ging, spielte das alles kaum noch eine Rolle. Aus unserem Leben zu dritt schien jedenfalls auf einmal eher ein Leben zu zweit zu werden, ja, ich hatte wirklich den Eindruck, dass meine Eltern dabei waren, sich von mir zu entfernen.
Natürlich sagte ich so etwas nie, ich konnte so etwas nicht sagen, denn selbst in späteren Jahren habe ich es nur sehr selten und dann auch nur gegen die größten inneren Widerstände fertiggebracht, anderen von meinen Empfindungen und Gefühlen zu erzählen. Für all diese Empfindungen und Gefühle hatte ich keine Worte, denn die Worte, die ich so mühsam gelernt und dann miteinander verbunden hatte, bezogen sich noch immer auf die direkt zugänglichen, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände. Alles, was darüber hinausging, gehörte für mich in das Reich des Ungefähren und war daher schwer zu benennen und erst recht nicht zu beschreiben.
Trotz der anhaltenden Sprachlosigkeit in diesen Dingen spürte ich aber dennoch genau, welche Zukunft sich für mich abzeichnete. Ich sah mich auf mich selbst gestellt und weitgehend allein, ich sah einen Jungen, den man in einem Kloster unterbrachte, damit er von dort aus ohne weitere Ablenkungen den direkten Weg in den pianistischen Himmel fand. Und ich sah ein Elternpaar, das nun ein vor mir verborgenes Leben in der Ferne führen würde, mit lauter neuen Interessen und Beschäftigungen, die ich vielleicht nicht einmal kennenlernen würde.
Was aber sollte ich tun? Das Klavierspiel aufzugeben, war unmöglich. Mit dem üblichen Klavierunterricht weiterzumachen, war halbherzig. Nein, es war schon richtig, ich gehörte nun auf eine strenge und auf mein jetziges Können hin zugeschnittene Schule, die genau dieses Können förderte und mir den zeitraubenden Umgang mit vielen anderen Lernstoffen ersparte. Was ich an solchen Lernstoffen brauchte, das verschaffte ich mir durch die Bücher und meine Lektüren, das sogenannte Grundwissen ergab sich dann schon von allein. In früheren Jahren hatte ich oft von einer Schule geträumt, in der die Musik die
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