Die Erfindung des Lebens: Roman
einstreute, die einen aufhorchen, nachdenken und innehalten ließen. Sie benutzte nie zu viele solcher Sätze, es waren höchstens zwei oder drei, doch der Zuhörer gewann oft den Eindruck, dass er gefordert oder gefragt sei.
Mutters stärkste Waffe aber waren kurze Mitteilungen über ihre Vergangenheit, die sie jedoch nur als Andeutungen in ein Gespräch einbrachte. Solchen Andeutungen konnte man sich nicht entziehen, sie hinterließen Rat- und Hilflosigkeit, und sie führten fast immer dazu, dass der Gesprächspartner ihr auf irgendeine Weise beistehen und helfen wollte.
Ich vermute, dass sie gegenüber dem Abt zu allen drei Hilfsmitteln gegriffen hat. Statt Kloster und Internat wie eigentlich vorgesehen nun zu verlassen, begleiteten wir ihn jedenfalls noch einmal zurück in die langen Fluchten der auffallend stillen Gebäude. Wo befanden sich eigentlich die dreihundert Schüler, die aus allen Gegenden Deutschlands hierhergekommen waren, um einmal gute Musiker zu werden? Nichts war von ihnen zu hören oder zu sehen, draußen, auf dem weiten Hof vor dem großen Klostergebäude, schritt nur manchmal ein Mönch oder ein schwarz gekleideter Geistlicher über den knirschenden Kies und verschwand in irgendeiner Pforte.
Als wir den Musiksaal des Internatsgebäudes erreicht hatten und der Abt noch dabei war, die Tür aufzuschließen, hörte ich meine Mutter flüstern: Kein Bach! Kein Mozart! Kein Beethoven! Ich erschrak einen Moment, weil ich dieses Diktat überhaupt nicht verstand. Warum denn keine Stücke dieser Komponisten? Und welche denn sonst?
Ich betrat den Musiksaal als Letzter, ich war etwas durcheinander, als Mutter mich zurückhielt und erneut flüsterte: Spiel die große C-Dur-Fantasie! Spiel den Anfang der großen C-Dur-Fantasie! Ich wusste jetzt zwar sofort, was sie meinte, begriff jedoch immer noch nicht, warum ich im Musiksaal dieses Internats ausgerechnet Robert Schumanns große Fantasie in C-Dur spielen sollte. Mutter selbst hatte mich das Stück nämlich noch nie spielen hören, und Vater hatte ich im Verdacht, dieses Stück überhaupt nicht zu kennen. Warum also gerade dieses Stück?
Erst später an diesem Tag, als wir bereits wieder im Zug saßen und zurück nach Köln fuhren, wurde das Rätsel gelöst, denn auf mein Nachfragen hin erklärte mir meine Mutter, dass Walter Fornemann vor wenigen Wochen behauptet habe, lange Zeit habe er keinen Schüler die große C-Dur-Fantasie von Robert Schumann so gut spielen hören wie mich.
Dass Walter Fornemann so etwas in vollem Ernst behauptet hatte, galt als ein starkes Stück , denn Walter Fornemann war niemand, der sein Lob besonders freigebig verteilte. Mir zum Beispiel hatte er davon kein Wort gesagt, und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass ich ausgerechnet diese Komposition bereits so gut beherrschte, dass der Zeitpunkt für ein öffentliches Vorspiel gekommen wäre.
Was ich dagegen wusste, war, dass ich dieses Stück anders spielte als andere Stücke, ja dass es im Grunde sogar kein einziges Klavierstück gab, das ich so spielte wie dieses. Diese Besonderheit hatte damit zu tun, dass die C-Dur-Fantasie meine inneren Bilder und damit auch meine Gefühle besonders stark ansprach und dass ich die Bilder, die ich mit diesen Klängen verband, mit unserer Familienphantasie und damit mit unserem Domizil auf der ländlichen Höhe in Zusammenhang brachte.
Der stürmische, leidenschaftliche Beginn! Die Schläge der rechten Hand zu den rollenden Wirbeln der Linken! …- und schon stand ich allein auf der Höhe des Hügels und schaute in die weite Umgebung, an deren Horizont blasse Wolken entlangzogen …
Vielleicht war es dieser geheime Zauber gewesen, der mein Vorspiel so besonders hatte erscheinen lassen, jedenfalls hatte der Abt mich schon bald unterbrochen und meinen Eltern im Flüsterton mitgeteilt, dass er sich eine Ablehnung durch die Aufnahme-Kommission der Lehrenden in meinem Fall nicht vorstellen könne.
Während unserer Rückfahrt im Zug sorgte diese Reaktion aber keineswegs für ungetrübte Freude, vielmehr spürten wir die Schwere der Entscheidung und waren uns noch bei der Ankunft in der Nacht unsicher, wie wir handeln sollten.
Später habe ich die geheimen Signale dieses für mein Leben wichtigen Tages immer als ein schlechtes Omen verstanden. Dass ich mit der C-Dur-Fantasie Schumanns einen so starken Eindruck hinterlassen hatte, hatte uns alle etwas betört, gleichzeitig aber auch verhindert, dass wir dem
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