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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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eigentlichen Hintergrund dieses kleinen Erfolges auf den Grund gegangen waren.
    Die C-Dur-Fantasie war in meinen Augen nämlich damals eine große Erzählung, die nicht mit anderen Musikstücken und Erzählungen zu vergleichen war, sondern ausschließlich mit meinem eigenen Leben zu tun hatte. Ich kannte keine andere Komposition, die solche Verbindungen herstellte, wie ich überhaupt keinen anderen Komponisten neben Robert Schumann kannte, der meine eigenen Bilder und Erlebnisse mit seiner Musik derart berührte und traf. Seit ich begonnen hatte, Schumann zu spielen, war mir vom ersten Moment an klar gewesen, dass er mein Lieblingskomponist war, und nach einer Weile war meine Anhänglichkeit sogar so weit gegangen, dass ich ernsthaft glaubte, ihm ähnlich zu sehen.
    Seltsam war nur, dass ich bisher niemandem von dieser besonderen Zuneigung erzählt hatte. Fornemann hatte ich nichts gesagt, weil er auch Schumann bereits einmal in seine Lästereien mit einbezogen hatte, und meiner Mutter hatte ich meine Schumann-Sympathien verschwiegen, weil die Zuneigung noch zu frisch war und ich noch nicht die richtigen Worte dafür fand.
     
    Ausgerechnet diese Zurückhaltung war nun aber der Grund dafür gewesen, dass meine Eltern und wohl auch der Abt mein Vorspiel falsch eingeschätzt hatten. Sie hatten nicht ahnen oder gar wissen können, dass ich während dieses Vorspiels mit nichts anderem beschäftigt war als mit meinen Geschichten sowie den suggestiven Bildern der Vergangenheit, und dass hinter diesen geheimen Verbindungen nichts anderes steckte als die tiefe Sehnsucht, weiter mit den Eltern zusammen sein und leben zu dürfen.
    Gerade weil Schumanns Kompositionen diese Sehnsucht beinahe ununterbrochen ansprachen, liebte ich sie also, es war jedes Mal, als entrückten sie mich in lauter Kinderszenen und erzählten von meinen einsamen Stunden in der Kölner Wohnung, von den Stunden allein mit der Mutter, von der Ankunft des Vaters am Nachmittag, vom stillen Spielen am Rhein, aber auch von der morgendlichen Begeisterung auf dem Land, von den Spaziergängen zwischen mannshohen Maisstauden und Kornähren und von der Begleitung durch den Vater auf Wegen, die nur uns gehörten.
     
    Das alles aber konnten meine Eltern und der Abt damals nicht ahnen. Sie hörten ausschließlich brillant gespielte Musik, während ich selbst aus diesem Spiel vor allem meine Sehnsucht nach den Orten meiner Kindheit heraushörte. Dieser starken Sehnsucht hätte ich vertrauen und von ihr hätte ich unbedingt sprechen müssen, doch genau das tat ich nicht. Ich blieb still und wartete darauf, wie meine Eltern sich entscheiden würden, während meine Eltern von meinem ersten Schumann-Auftritt derart überrascht und wohl auch verführt waren, dass sie diesen Auftritt der neuen Umgebung und der angeblich besonderen Aura des Klostergeländes zuschrieben.
    Niemals habe ich den Jungen zuvor so gut spielen hören, Niemals habe ich den Jungen zuvor so gut spielen hören, soll mein Vater nach diesem Auftritt heimlich zu meiner Mutter gesagt haben, und meine Mutter soll sich beim späteren Durchqueren des Hofes vor dem Kloster bekreuzigt haben, als hätte der gute Geist des Ortes dazu beigetragen, dass ich so glänzend gespielt hatte.
     
    Heute frage ich mich, ob damals wirklich niemand, selbst nicht der Abt, bemerkte, dass mein Schumann-Spiel überhaupt nicht in dieses Kloster und sein Internat passte. Man hätte es hören und sehen müssen, ja man hätte von der ersten Sekunde meines Spiels an begreifen müssen, dass man einen Jungen, der derart Schumann spielte, nicht Hunderte von Kilometern von seinem bisherigen Zuhause entfernt in ein Internat stecken konnte, in dem Schumanns C-Dur-Fantasie ein beliebiges Stück unter anderen Übungsstücken war.
    An jenem denkwürdigen Tag aber spürte und empfand das alles wohl keiner. Wir verließen das Internat zu dritt mit der Gewissheit, dass man mich aufnehmen würde, und seit diesem Zeitpunkt arbeitete diese Idee noch heftiger und aufdringlicher als zuvor in unseren Köpfen, ohne dass wir hätten ahnen können, dass genau diese Idee und dieser Plan es waren, die mein Leben von Grund auf gefährden und alle bisherigen Errungenschaften wieder zum Einstürzen bringen würden …
     
    Vielleicht aber hätten wir uns ja noch besonnen und anders entschieden, wenn damals nicht plötzlich auch von weiteren Veränderungen die Rede gewesen wäre. Wir reisten nun schon eine ganze Weile zwischen Köln und dem Land hin und her, in

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