Die Erfindung des Lebens: Roman
Zusammenseins hatte ich bei keinem von ihnen eine stärkere Rührung wahrgenommen. Wir drei hatten den Abschied inmitten des Trubels nach der Willkommensfeier wahrhaftig hinter uns gebracht, ohne eine Spur von Schwäche zu zeigen.
Später sah ich sie dann noch einmal, wie sie noch immer an der Haltestelle warteten, während alle anderen Eltern längst in ihren Fahrzeugen in alle Richtungen davongebraust waren. Einen kurzen Moment regte sich in mir die Erinnerung an den Beginn der Volksschulzeit, als Mutter und ich es einfach nicht fertiggebracht hatten, uns zu trennen. Jetzt waren wir über so etwas anscheinend hinweg, aber es gelang mir nicht, diese Entwicklung als einen Fortschritt zu betrachten. Vater hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, und Mutter stand in einem ihrer schönen langen Mäntel da wie eine Frau, die man sich in einem Landbus nicht vorstellen konnte.
Ich konnte nicht länger hinschauen, dieses Bild war ja beinahe …, verdammt noch mal, wie sagte man denn? Kurze Zeit später entdeckte ich in einem Text ein Wort, das ich noch nicht kannte, und wusste sofort, dass es genau die Empfindung bezeichnete, die ich während des letzten Blicks auf meine im fernen Regen vor einer Bushaltestelle stehenden Eltern gehabt hatte: Meine Empfindung war herzzerreißend gewesen, ja genau, ich hatte eine herzzerreißende Empfindung gehabt …
In den ersten Tagen und Wochen des Internatslebens wurde ich das Herzzerreißende nicht los, es war wie ein Fieber, das mich jeden Tag in nicht vorhersehbaren Momenten befiel und lähmte. Irgendeine Kleinigkeit genügte bereits, um meine Sehnsucht nach Köln und unserem Zuhause auszulösen, manchmal war es ein Geruch, dann eine Geste oder eine Bemerkung, ja ich war so empfindlich, dass ich regelrecht danach suchte, wieder an etwas Vertrautes erinnert zu werden.
Denn die Entfernung von diesem Vertrauten war nichts anderes als ein schmerzlicher, gewaltiger Schock, der so groß war, dass ich ihn oft nur durch die Vorstellung, all das, was ich gerade erlebte, sei bald vorbei und sowieso nur ein böser Traum, überstand.
Dabei wurden wir Neuankömmlinge keineswegs besonders streng oder finster behandelt, im Gegenteil, jeder von uns bemerkte, dass man uns einen Bonus einräumte, indem man uns langsam und geduldig mit unserer neuen Welt vertraut machte. Es waren also nicht die Patres und die anderen Lehrer, die mir so zusetzten, es waren auch nicht die neuen Mitschüler, mit denen ich mich nach einer Weile denn doch arrangierte, nein, das alles war es nicht, es war vielmehr die gesamte Planung und das System selbst.
Über dieses System hatten sich meine Eltern, wie ich heute glaube, nicht genügend Gedanken gemacht. Sie hatten das große Ziel im Blick, nicht aber den Weg dorthin, und genau das war der entscheidende Fehler, den man erst später, als es längst viel zu spät war, bemerkte.
Um eine Vorstellung von diesem Weg zu erhalten, hätten meine Eltern in Gedanken den normalen Tagesablauf eines Schülers durchspielen und sich danach auch den Ablauf einer Woche vorstellen müssen. Sie hätten sich dabei bis ins Einzelne zu vergegenwärtigen gehabt, was ich Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche an genau welchen Orten zu tun hatte. Dann hätten sie sich fragen müssen, ob eine solche Planung gut und wirklich ideal für mich war.
Mit Sicherheit hätten sie auf diese Weise nicht genau vorhersehen können, was dann später wirklich geschah, aber sie hätten doch sofort gewusst, dass sie mich in ein Leben verabschiedet hatten, das nicht das richtige für mich war, ja in dem ich mich von Tag zu Tag in eine nicht beabsichtigte Richtung verändern würde.
Ein besonders unangenehmer Bestandteil dieses Lebens war die dauernde Anwesenheit der Mitschüler in meiner unmittelbaren Umgebung. Dabei störte ich mich nicht an den besonderen Macken und Eigenheiten bestimmter Mitschüler, nein, es störte mich generell, dass ich den ganzen Tag von anderen Menschen umgeben und beinahe keine einzige Minute allein war.
Es begann schon damit, dass etwa fünfzig Schüler in einem großen Schlafsaal schliefen, Bett neben Bett. Jeden Morgen begegnete man nach dem frühen Aufwachen sofort einer kaum überschaubaren Zahl von Fremden, denen man dann bis zum Mittag nicht mehr entkam. Man ging zusammen ins Bad, man frühstückte zusammen, man besuchte manchmal den Gottesdienst und setzte sich dann wieder dicht nebeneinander in den Klassensaal. Die einzigen Minuten,
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