Die Erfindung des Lebens: Roman
wichtigste Rolle spielte, warum aber bekam ich es jetzt, wo man mich genau auf eine solche Schule schicken wollte, mit der Angst zu tun?
Ach, ich wusste es doch genau und konnte es doch mit keiner Silbe sagen: Ich wollte mich um keinen Preis von den Eltern trennen. Bis zum damaligen Zeitpunkt meines Lebens waren sie mir Freunde, Vertraute, Spielkameraden, einfach alles gewesen. Ich hatte zwar inzwischen gelernt, auch mit anderen Jungen auszukommen, mit ihnen zu spielen und mit ihnen etwas zu unternehmen. All diese Beschäftigungen aber reichten doch nicht im Geringsten an das Zusammensein mit meinen Eltern heran. Wie sollte das denn aussehen, ein Tag und eine Nacht ohne sie? Wie sollte denn überhaupt ein Morgen beginnen ohne die Stimme meiner Mutter, und wie wäre es abends, wenn ich meinen Vater nicht begrüßen konnte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam?
Schon allein bei der bloßen Vorstellung eines Lebens ohne Eltern geriet ich in leise Panik, warum begriff das denn niemand, und warum behaupteten alle, mit denen über unser neues Leben gesprochen wurde, der Junge könne sich wirklich freuen, eine so ideale Ausbildung zu bekommen. War eine Ausbildung ohne die Gegenwart meiner Eltern wirklich ideal ? Und was war das Wort ideal für ein tückisches und böses Wort, wenn man mit ihm derart leicht die Ängste eines Kindes überdecken konnte?
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DER TAG, an dem meine Eltern mich ins Internat brachten, erinnerte mich an den ersten Tag in der Volksschule, nur war alles um mich herum etwas größer, pompöser, feierlicher und daher auch ernster. Die Schüler, für die an diesem Tag ein neuer Lebensabschnitt begann, kamen aus ganz Deutschland, aus Österreich und der Schweiz, und man sah ihnen an, dass ihre Eltern sich um sie gekümmert hatten. Die meisten trugen eine auffällig modische und auf den ersten Blick teure Kleidung und wirkten daher schon in diesem frühen Alter leicht professionell. Viele von ihnen hatten ähnlich wie ich bereits einige Wettbewerbe gewonnen und ließen erkennen, dass sie über die Anfangsgründe der Musik weit hinaus und längst auf dem Karriereweg waren.
Bevor der eigentliche Unterricht begann, kamen alle in der großen Aula des Internats zusammen. Der Abt hielt eine Ansprache, das Schulorchester spielte, und einige hochtalentierte, ältere Schüler glänzten mit derart gelungenen Auftritten, dass die Neuankömmlinge gleich um eine Spur ruhiger und bescheidener wurden.
Ich schaute mir einige von ihnen genauer an und stellte mir vor, dass jeder von ihnen seit seiner Kindheit mit einem bestimmten Instrument verwachsen war. Im Grunde waren es keine normalen Schüler, die hier Mathematik oder Deutsch, Gemeinschaftskunde oder Biologie lernen wollten, es handelte sich vielmehr um lauter Jungen, die an nichts anderes dachten als daran, ihrem Instrument immer perfektere Töne und Klänge zu entlocken. Die Schwierigkeitsgrade steigern! Eine Komposition noch schneller und virtuoser spielen! Den Konkurrenten mit Stücken überraschen, die er noch nicht im Repertoire hatte! All das war die Hauptsache, der gegenüber alle anderen Lerninhalte anscheinend als nettes Beiwerk empfunden wurden. Die Jungen hier sind ganz auf die Musik konzentriert, auf die Musik, und nur darauf … , hatte der Abt während unserer ersten Begegnung gesagt.
Dieser Satz hatte im Kopf meiner Eltern wie kein anderer gezündet. Wahrscheinlich stellten sie sich vor, dass ich nach wenigen Monaten wie eine Rakete abheben und den von Walter Fornemann anvisierten pianistischen Himmel schon bald als kleiner Satellit durchkreisen würde. Ich sah, dass sie stolz waren, Mutter auf ihre begeisterte, Vater auf eher zurückhaltende Art.
Doch als ich sie später vom ersten Stock des Hauptgebäudes aus beobachtete, wie sie zu zweit hinüber zu der kleinen Bushaltestelle gingen, wären mir fast die Tränen gekommen. Da ging das Paar, mit dem zusammen ich bisher jeden Tag verbracht hatte, da entfernte es sich von mir, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen.
Es regnete, und natürlich hatten die beiden keinen Schirm dabei. Mutter hatte sich bei Vater eingehängt, und sie gingen beide mit etwas hochgezogenen Schultern. Gerade hatten sie sich von dem Menschen getrennt, der nach all den gemeinsam erlebten Katastrophen als Einziger noch übrig geblieben war. Bestimmt war es ihnen nicht leichtgefallen, so etwas zu tun, aber keiner von beiden hatte je darüber gesprochen, und auch in den letzten Stunden unseres gemeinsamen
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