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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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die man bis zum Mittag allein verbringen konnte, waren die knappe, halbe Stunde vor dem wiederum gemeinsamen Mittagessen, in der sich die meisten Schüler auf ihrem schmalen Bett im Schlafsaal aufhielten.
     
    Nun war das ununterbrochene Zusammensein und das Dasein in einer Gemeinschaft an und für sich ja nichts Schlimmes, und es gab auch viele Schüler, denen so etwas überhaupt nichts ausmachte, weil sie sich in einer solchen Gemeinschaft wohlfühlten. Für mich aber bedeutete ein solches Leben eine Umstellung, an die ich mich die ganze Zeit meines Internat-Aufenthaltes nicht gewöhnen konnte. Über ein Jahrzehnt hatte ich mit nur wenigen Menschen ein sehr stilles Leben geführt, jetzt aber sollte ich mich darauf einstellen, vom frühen Morgen bis in die Nacht Teil einer unruhigen, nervösen und oft sehr lauten Gemeinschaft zu sein.
    Hinzu kam die körperliche Präsenz der Mitschüler, die einem mit ihren Bewegungen und Aktionen viel zu nahekamen. Auch diese Dauerpräsenz anderer Menschen um mich herum war ich nicht gewohnt, ich hatte, verglichen mit meinen Mitschülern, in einem großen Abstand zu anderen Menschen gelebt, so dass ich jedes plötzliche, unerwartete und meist noch heftige Eindringen in den unmittelbaren Raum um mich herum nur wie eine lästige und dazu noch überflüssige Störung empfand.
    Dadurch aber entwickelte sich mein Aufenthalt in den Räumen des Internats und des Klosters zu einer einzigen Flucht, während der ich ununterbrochen damit beschäftigt war, Ruhezonen und andere Räume aufzutun, in denen ich es zumindest nur mit einer begrenzten Zahl von Mitschülern zu tun hatte.
    Zur wichtigsten dieser Zonen entwickelte sich mit der Zeit die Klosterkirche, in der das Sprechen verboten war und in der es genaue Regeln für das Verweilen gab. Bald genügte es mir nicht mehr, nur zu den Gottesdiensten zu erscheinen, sondern ich versuchte, die Kirche so oft wie möglich aufzusuchen, um mich wenigstens für kurze Zeit in diesem stillen Raum aufzuhalten.
    Besonders still war es in ihr in der Morgenfrühe, kurz vor sechs, wenn die Patres im Chorraum erschienen und den Tag mit ihren gregorianischen Wechselgesängen begannen. Wir Schüler waren nicht verpflichtet, bereits so früh aufzustehen, andererseits war der Besuch dieses frühen Choralgesanges aber auch nicht verboten. Und so saß ich jeden Morgen meist als der einzige, noch vor den anderen aus dem Schlafsaal geschlüpfte Schüler im hinteren, dunklen Bereich der Kirche, um nichts anderes zu erleben als die Stille des Raums und den mir neuen, aber mich von Anfang an bewegenden Gesang.
     
    Dieser Gesang begann fast immer mit demselben Gebetsruf, der mich dann mein ganzes weiteres Leben lang begleitet hat und in ihm immer wieder eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Es handelte sich, wie bei den weiteren Gesängen auch, um einen Text in lateinischer Sprache, der zu einem einzigen, im weiten Kirchenschiff verebbenden und den Gesang daher nur stützenden Orgelklang gesungen wurde.
    Ich weiß diesen lateinischen Text noch heute auswendig, er lautet: Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad adjuvandum me festina , was auf Deutsch heißt: O Gott, komm mir zu Hilfe/ Herr, eile mir zu helfen.
    Die starke Wirkung, die diese beiden Zeilen bei mir jedes Mal auslösten, hatte mit der Einfachheit der Worte zu tun, die in eine absolute Stille hinein gesungen wurden. Vor ihm gab es nichts anderes als diese Stille, es war die schwere Stille der tiefen Nacht, die noch immer den gesamten Gottesraum füllte und durch diese ersten Klänge erst langsam vertrieben wurde.
    Daneben war der Gesang aber auch deshalb schön, weil er nicht aus einer Melodie, sondern nur aus der Wiederholung eines einzigen Tons bestand. Dieser Ton wurde sehr leise und mit einer geradezu rührenden Vorsicht gesungen, es war ein Ton, dessen Reinheit man in der Dunkelheit suchte und den man dann im weiten Raum langsam zum Schwingen brachte.
    So begann der Tag nicht mit etwas Lautstarkem oder Demonstrativem, nein, ganz im Gegenteil, er begann mit der Bemühung, einen einzigen Ton zu treffen, um dann eine Weile lang auf ihn zu horchen. Der gesamte Gestus dieses Morgengebets hatte dadurch etwas von einer bescheidenen und vorsichtigen Annäherung, man trat aus dem Dunkel ins Helle, man lauschte dem ersten Morgenlaut und verneigte sich vor Gott, ohne mehr aufzubieten als einen einzigen Ton und die flüsternde Schwachheit der Stimme.
    Dazu aber passte auch der zweizeilige Text, der ja im Grunde

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