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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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jedem dieser Orte ließ ich mich sehen, wechselte ein paar Worte, kaufte eine Kleinigkeit oder unterhielt mich unter einem Vorwand. Schließlich hatte ich die gesamte Palette der Wege und Haltepunkte beisammen, das Bild meines Kindheitsraums war wieder komplett. Was aber suchte ich, warum zog es mich so an diese alten Orte, die ich doch eigentlich unbedingt hinter mir lassen wollte?
     
    Noch heute fällt es mir nicht leicht, genau zu begreifen, was ich damals tat. Mein Tun ähnelte den Aktionen eines Verrückten oder eines Triebtäters, den es mit Macht an Orte zurückzieht, an denen sich etwas für ihn Schreckliches ereignet hat. Was also war mit mir los?
    Um mein Verhalten besser zu verstehen, möchte ich nicht gewagt spekulieren, sondern mich an einige einfache Beobachtungen halten. So fällt mir als Erstes auf, dass ich die alten Orte vor allem deshalb aufsuchte, weil ich an ihnen erkannt werden wollte. Am liebsten war es mir sogar, wenn jemand während einer Begegnung mit mir eine Art Wiedersehen erlebte und mir im Verlauf eines Gesprächs von sich aus bestätigte, dass ich beinahe alle Ähnlichkeit mit dem stummen und hilflosen Kind von früher verloren hatte.
    Ein plötzliches Innehalten beim Hören meiner Stimme, ein Erstarren beim Betrachten meines Gesichts oder meiner Bewegungen – das waren die starken Momente, die mich seltsam glücklich machten. Um solche Momente in möglichst großer Zahl zu erleben, belauerte und beobachtete ich die Reaktionen meines Gegenübers: Hatte diese Verkäuferin, an die ich mich noch gut erinnerte, nicht gerade für einen Moment gezögert, als ich ihr das Geld hingelegt hatte? Hatte mich der Zeitungsverkäufer am Kiosk nicht länger als nötig gemustert, als erinnerte mein Erscheinen ihn dunkel an etwas von früher?
    In Glücks-Momenten passte alles zusammen. Ich betrat die Kappes -Wirtschaft, und mir lief ein Köbes über den Weg, der mich sofort erkannte. Ich ging in die kleine Kirche, und der Pfarrer verließ gerade die Sakristei, um bei meinem Anblick so heftig zu erstarren, als begegne er einer Erscheinung. Es war, als wäre ich aus einer langjährigen Gefangenschaft zurückgekehrt und würde nun von all denen, die an mich gedacht und die ganze Zeit für mich gebetet hatten, begrüßt und gefeiert.
    Johannes – das kann doch nicht wahr sein! – oh, wie liebte ich solche Ausrufe und Beteuerungen, wie schluckte ich sie gierig und wiederholte sie später im Stillen noch einmal für mich selbst: Es konnte nicht wahr sein, dass aus mir ein anderer Mensch geworden war, nein, es konnte doch einfach nicht wahr sein, dass dieser groß gewachsene, deutlich und flüssig sprechende Junge der Johannes von früher war!
     
    Als man mich fragte, wo ich jetzt wohne, antwortete ich, dass ich seit Neustem ganz in der Nähe aufs Gymnasium gehe und mit meinen Eltern in einem Kölner Vorort lebe. Solche Auskünfte wurden mit großer Begeisterung gehört, denn beinahe alle, die mich wiedererkannten, taten so, als wären sie von meiner Rückkehr nicht nur bewegt, sondern gerührt. Ich hatte es also doch noch geschafft, ich war über den Berg , ja, ich war gerettet!
    Viele erzählten mir Einzelheiten oder Anekdoten aus den früheren Jahren, und ich hörte all diese Geschichten eine Zeit lang sehr gern. So wurde ich zu einem besessenen Zuhörer, dessen ganzes Vergnügen darin bestand, anhand von all diesen Erzähl-Details abzuschätzen, in welchen Belangen er sich von diesem früheren Leben entfernt hatte und in welchen er sogar weit darüber hinausgewachsen war.
     
    Solche Vergleiche waren aber nur ein Grund, warum es mich so häufig an die alten Kindheitsstätten zurückzog. Ein weiterer bestand darin, dass ich das ruhige Zusammenleben mit meinen Eltern als trügerisch empfand. Gar nicht so selten hatte ich damals nämlich das Gefühl, in jedem Moment könnte dieses ruhige Leben wieder zu Ende sein oder sich auf bedrohliche Weise sogar langsam wieder in die alten, früheren Gegebenheiten zurückverwandeln.
    Es waren kurze, winzige Schocks, die mich auf solche Gedanken brachten, Momente, in denen ich meine Mutter plötzlich wieder beinahe regungslos in ihrem Sessel sitzen sah, oder kleine Szenen wie die, wenn mein Vater nach getaner Arbeit nach Hause kam und als Erstes ins Bad ging, um aus der hohlen Hand Wasser zu trinken.
    Am Schlimmsten aber war, wenn ich an mir selbst solche alten Verhaltensweisen entdeckte. So passierte es häufig, dass ich nach Verlassen eines Kinos eine Zeit lang

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